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Das eine Buch

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I.

Seit Jahr und Tag verleiht die kommunistische Staatsjugend in der deutschen Ostzone ihren tüchtigsten Mitgliedern ein Abzeichen „für gutes Wissen“. Es wird in Bronze, Silber und Gold verliehen. Die etwas unförmige Plakette zeigt neben anderen Emblemen der kämpferischen Gelehrsamkeit ein aufgeschlagenes Buch. Zu den Bedingungen für ihre Erwerbung gehört in erster Linie die nachgewiesene Lektüre einiger Bücher, so etwa in der ersten Stufe Heines „Deutschland, ein Wintermärchen“, die Biographie des deutschen Kommunistenführers Ernst Thälmann, späterhin dann Maxim Gorkijs Roman „Die Mutter“, Kalinins „Erziehung zum Kommunismus“, des Freidenkers Prof. Reschs „Goethe-Biographie“ und noch einiges andere.

Das alles könnte man spöttisch oder traurig belächeln, wenn.. ja, wenn nicht aus dieser merkwürdigen Tatsache einer planmäßigen Erziehung zum bewußten Lesen, aus dieser Prämiierung des Buchwissens etwas sehr Nachdenkenswertes abzulesen wäre. Es ist hier wie bei den meisten uns auf den ersten Blick neu und unheimlich anmutenden Erscheinungen des großen Staates der Antikirche im Osten: sie sind Zerrbilder, ins Gegenteil verkehrte Phänomene unserer eigenen, vom inneren Zerfall bedrohten einstigen Hochkultur. Es ist zu billig, über dieses Abzeichen für gutes Wissen zu spötteln, es einem vermeintlichen „östlichen“ Analphabetentum zuzuordnen und sich im Faulbett abendländischen Geistesrentnertums auf die andere Seite zu drehen. Dieses Wissensabzeichen gehört, seiner verzerrten, parteipropagandistischen Seite entkleidet, eigentlich zu unserm Besitz. Und es hat auch einmal zu ihm gehört..,

II.

... damals, als man noch nicht einmal im Jahre einen „Tag des Buches“ arrangieren mußte, als das Buch neben Kreuz und Krone die große europäische Drei-heit des echten christlichen Humanismus bildete. Damals, als jedes Buch noch als Abglanz „des Buches der Bücher“ verstanden wurde, als Bücher nicht nur Geschichte hatten, sondern Geschichte machten. Es waren die Jahrhunderte, da die reformatorischen und gegenreforma-torischen Streitschriften zur wahren, bestimmenden Zeitmacht geworden waren, die Jahrhunderte, da ein Montesquieu als Stätte der Vollendung vom „Turm mit Büchern“ träumte, da Bücher wie der „Werther“ und der „Candide“, die „Empfindsame Reise“ und die „Verlobten“ im Für und Wider des pulsierenden Lebens, des Lebens nicht zuletzt einer glühend geöffneten Jugend standen. Diese Zeit hat einen letzten, epigonenhaften Nachklang in jenen Lesezirkeln gefunden, die Obergymnasiasten und Studenten zur hitzköpfigen Lektüre

Ibsens und Sudermanns in Berlin, Hofmannsthals und Schnitzlers in Wien vereinten. (Catholica waren damals schon nicht mehr „legenda“, man war ja schließlich modern.)

Aber dennoch: Es war ein letztes Aufleuchten der Zentralsonne, die das Buch als Lebensmacht dargestellt hatte. Dann teilten sich anscheinend für immer die Wege. Das gute Buch wanderte in der Zeit spätbürgerlichen Wohlstandes in bibliophiler oder auch bloß protzig-snobistischer Ausgabe in den Prachtbücherschrank, gelesen wurde vom „Gelben Ullstein“ abwärts. Bis dann schließlich der Krieg und Nachkrieg den letzen Rest der Fassade wegfegte und mit dem „comic-book“ für Erwachsene nunmehr der denkbare Endpunkt einer Abwärtskurve erreicht ist.

III.

Diese Zeilen wollen die schroffe Antithese nicht auflösen in Einzeluntersuchungen, wer oder was daran schuld sein mag. Damit kämen wir zu keinem anderen Ende als dem gegenseitigen An-jammerns: der Verleger das Publikum, das Publikum den Autor, der Autor die Gesellschaft, die Gesellschaft die Verleger. Zudem gibt es genügend, einander gewöhnlich widersprechende Statistiken über das im Grunde Unmeßbare: die innere Macht des Buches. Wir ziehen lediglich ein klares Fazit: auf der einen Seite der Welt die atemberaubende Primitivität eines vom Staat genormten, in eine einzige sture Richtung gelenkten Lebens mit stolz getragener goldener Plakette am Ende, auf der anderen Seite der Welt eine zwar immer höhere Wogen schlagende Papierinflation, die aber zu einem Teil im luftleeren Raum schwebt, zum anderen das Wort „Buch“ nicht mehr verdient. So sieht es also aus. Es gibt in Ibsens, der Erinnerung wertem Trauerspiel „Kaiser und Gali-läer“ eine sehr eindrucksvolle Szene: Julianus Apostata rüstet zum Kampf des alten, dem Untergang zueilenden Heidentums gegen das siegreich vordringende Christentum. Er ist nicht nur Kaiser und Machtpolitiker, sondern auch Philosoph und Volkserzieher. „Hier“, so ruft er aus, mit vom Lesen entzündeten Augen in Gesellschaft einiger Freunde die Bühne betretend, „hier habe ich die Waffen, um die neue Lehre endgültig zu zerschmettern.“ Diese Waffen sind viele, viele gelehrte, witzige, kluge, fleißige Bücher, Papyrusrollen, Schriften, ein Arsenal, aufgefahren gegen das eine einzige kleine Evangelium. Unnötig hinzuzufügen, daß man schon hundert Jahre danach nicht einmal mehr die Namen dieser Waffen des Julianus kannte.

IV.

Und doch ist diese Einheit des „Buches der Bücher“, das für Jahrhunderte Kaisern, Philosophen und Bischöfen neben ganz wenigen anderen kommentierenden Schriften wesentlicher Art als einzige Lektüre diente, himmelweit unterschieden von der sturen, unheimlich trostlosen Langeweile, die jene Bücher verbreiten, deren pflichtgemäße und fanatische Lektüre die goldene Plakette sichert. Denn aus dieser scheinbar beschränkenden Einheit, die das Christentum an das Ende der aufgeblätterten Vielfalt der Spätantike setzte, blühte im Laufe der Jahrhunderte wieder jene Vielheit auf, die keimhaft in den Büchern der beiden Testamente beschlossen liegt. Wo gibt es historische Monumentalität, die nicht in letzter Abstammung dem Pentateuch verpflichtet ist (und nicht dem Naturmythos des unsterblich-sterblichen Homer), welches poetische Liebeslied ist nicht doch ein Nachglanz des Schir-ha-Schirim, des „Hohen Liedes“, wo ist echte Weltweisheit, bis in die Tage des Cervantes, ja selbst des späten Voltaire hinein, die nicht in den „Sprüchen“ und im „Prediger“ keimhaft vorbereitet wäre, wo gibt es vollends eine das Tiefste untersuchende wissenschaftliche Streitschrift, die ohne .eine Spur des Römerbriefes wäre, wo gibt es Hymnus und Vision, von Dante über Milton und Klop-stodc bis zu den einsameren Hymnikern unserer letzten Tage, die nicht Abbild der einen „Geheimen Offenbarung“ wären?

Und so wagen wir, durchaus nicht die Bahnen des Exegeten kreuzend, ganz in der Ebene des Dichterischen, das Wort: Jedes wahre, einende, kulturschaffende Buch ist bewußt, viel, viel öfter aber unbewußt, ein Abglanz, eine Ausfaltung des „Buches der Bücher“. Ich glaube, es wird jetzt verständlich, warum uns dieses Symbol des „einen“ aufgeschlagenen Buches, das Millionen heranwachsender junger Deutscher im Osten bronzen, silbern oder golden auf dem Rockaufschlag tragen, als ein mahnendes Zerrbild unserer eigenen verlorenen Einheit erscheint. Wir können und wollen natürlich kein gleiches Abzeichen stiften, noch einen Plan der „Pflichtlektüre“ für werdende Abendländer entwerfen. Aber wenn jeder, der mit diesem Gesamtkomplex des Buches zu tun hat, bei seiner letzten kritischen Wertung alles dessen, was geschrieben werden muß und was nicht, an dieses „eine“ Buch denkt, das geheimnisvoll im Mittelpunkt und am Anfang aller Bücher steht, werden unsere jungen Menschen ohne Unterschied der Konfession ein ähnliches, unendlich wertvolleres Abzeichen tragen können.

Allerdings nicht offen auf dem Gewände, sondern, wie Grillparzers Kaiser Rudolf von den erträumten Friedensrittern einer neuen Zeit sagt, „drinnen, unter dem Gewände...“

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