"Das war kein Vergessen, sondern Lügen"

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"Soldaten, die im Ersten Weltkrieg mit einer 'Schüttellähmung' von der Front ins Lazarett geschickt worden waren, wurden mit Stromstößen 'behandelt' - und so zusätzlich traumatisiert."

Elisabeth Brainin beschäftigt sich seit langem mit der Aufarbeitung der Folgen des Nationalsozialismus. (Das Bild oben zeigt einen Nazi-Aufmarsch des Jahres 1938 in Wien). DIE FURCHE hat mit der Wiener Psychiaterin und Psychoanalytikerin über individuelle und kollektive Traumen, die langjährige "Opferthese" und die Erinnerungspolitik der neuen Regierung gesprochen.

Die Furche: Frau Brainin, wie würden Sie "Gedächtnis" und "Erinnerung" unterscheiden?

elisabeth Brainin: Unter Gedächtnis verstehe ich das, was das Gehirn im Sinne eines physiologischen Speichers bietet, während Erinnerung von Affekten und Gefühlen getönt ist und überlagert wird von neuen Erlebnissen und Erinnerungen. Es ist ein Unterschied, ob ich mir als Historikerin Jahreszahlen merke oder ob ich mich an eigene Kindheitserlebnisse erinnere. Wobei es Menschen gibt, die einen leichten Zugang zu ihren Erinnerungen haben, und andere, die sich bis zu ihrem 14. Lebensjahr kaum erinnern können.

Die Furche: Könnte man sagen, dass sich Menschen an besonders emotionale Momente besonders gut erinnern?

Brainin: Nein, es kann genauso gut sein, dass Erlebnisse, die besonders viele Affekte ausgelöst haben, besonders verdrängt werden. Wie ein Mensch mit seinen Affekten umgeht, ist ganz unterschiedlich und hängt von den psychischen Möglichkeiten ab, die er im Lauf seines Lebens entwickelt hat, um mit Angst, Erregung und Triebwünschen fertig zu werden.

Die Furche: Sie forschen intensiv zum Thema "Trauma". Sigmund Freud hat es als Erlebnis beschrieben, das "durch ein Anfluten von Reizen die Verarbeitungsmöglichkeiten des Individuums übersteigt". Wie würden Sie "Trauma" definieren?

Brainin: Das ist schwierig, weil es so viele verschiedene Arten gibt. Zugleich ist es mittlerweile zu einer Inflation des Begriffs gekommen, weil heute fast alles als traumatisch bezeichnet wird. Die "posttraumatische Stresserkrankung" ist jedenfalls eine relativ neue diagnostische Kategorie -ausgelöst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch den Kampf der Überlebenden der Nazi-Verfolgung um Entschädigungen. Es gab aber schon nach dem Ersten Weltkrieg eine große Auseinandersetzung über den Begriff der "Kriegsneurosen": Soldaten, die mit einer "Schüttellähmung" von der Front ins Lazarett geschickt worden waren, wurden mit Stromstößen "behandelt", weshalb Freud die Militärärzte 1918 in einem Verfahren gegen Julius Wagner-Jauregg als "Maschinengewehre hinter der Front" bezeichnet hat, weil die Soldaten dadurch zusätzlich traumatisiert wurden. Es kann aber auch traumatisch sein, wenn heute Kinder mit ihren Eltern flüchten müssen. Und dann gibt es auch sexuelle Traumen durch Missbrauch und Vergewaltigung, die im Zuge der #Metoo-Debatte thematisiert wurden. Das kann man nicht über einen Kamm scheren.

Die Furche: Bei sexueller Gewalt können Opfer oft erst Jahrzehnte später von ihren Erlebnissen erzählen. Wie kommt das?

Brainin: Es hat jedenfalls nichts damit zu tun, dass sich diese Menschen erst so spät "erinnern". Wenn man mit zwölf Jahren sexuell missbraucht wird, vergisst man das nicht, aber man sagt es nicht -aus Scham oder auch aus Angst. Gerade in der #Metoo-Debatte konnte man sehen, wie es heute noch oft zu einer Täter-Opfer-Umkehr kommt. Auf einmal waren die Frauen die Täter, die gesagt haben: Ich bin auch missbraucht worden! Oder die Kinder, die in irgendwelchen - auch katholischen -Institutionen sexuelle Gewalt erfahren haben. In meinen Behandlungen wird deutlich, wie wahnsinnig schwer es für viele ist, auch noch 30 Jahre später ihre Empfindungen auszudrücken.

DIE FURCHE: Viele Traumatisierte haben nie die Möglichkeit, Erlebtes aufzuarbeiten. Man denke an diejenigen Menschen, die in den letzten Jahren nach Europa geflohen sind. Was macht das mit einer Gesellschaft?

Brainin: Das ist sicher nicht einfach. Insgesamt muss man aber betonen, dass wir in Europa derzeit in der friedlichsten Periode der Geschichte leben. In der Zeit nach dem Krieg sind hingegen Hunderttausende Menschen schwerst traumatisiert durchs Land gezogen - und die Überlebenden der Konzentrationslager sind auch nicht mit Rosen empfangen worden. Im Gegenteil: Noch heute werden in der Zeitschrift Aula, die einer aktuellen Regierungspartei nahesteht, die Überlebenden von damals als "Landplage" bezeichnet. Dazu kam, dass sich die Mehrheitsgesellschaft damals vor Rache und Restitution gefürchtet hat. Man hat Angst gehabt, dass sie zurück kommen und alle Blockwarte anzeigen. Es braucht viel Zeit, damit Gesellschaften dieses Ausmaß an Gewalt, das ein Krieg oder die Flucht vieler Menschen mit sich bringt, bewältigen können. Und es braucht soziale Stabilität: Wenn wir also heute Menschen, die -aus welchen Gründen immer - zu uns geflohen sind, keine Möglichkeit bieten, sich ein Leben aufzubauen, dann werden sie kaum mit ihren Traumen fertig werden und sich auch nicht integrieren können.

DIE FURCHE: Sie haben lange zur generationsübergreifenden Weitergabe von Traumen geforscht. Welche Mechanismen greifen hier?

Brainin: Meist kommt es von Anfang an zu einer Kette von Retraumatisierungen. Ein holländischer Psychoanalytiker, der jüdische Kriegswaisen untersuchte, hat den Begriff der "sequenziellen Traumatisierung" geprägt. Die erste Sequenz war etwa bei diesen Kindern das Versteck, die zweite die Trennung von den Eltern und ihre Deportation, die dritte das Ende des Krieges, als niemand der Familie überlebte und zurückkam, bis zu jener Sequenz, als doch jemand zurückkam und das Kind wieder haben wollte, das sich gerade in eine neue Familie eingelebt hatte. Diese Reihe von Traumen kann man sich auch heute in einer Fluchtsituation vorstellen. Was die konkrete Weitergabe betrifft, gibt es unterschiedliche Mechanismen. Das kann eine tatsächliche psychische Erkrankung der Eltern sein, die sich auf die nächste Generation auswirkt, aber auch "nur" große Angst oder Schlaflosigkeit. Psychoanalytisch spricht man jedenfalls von "Übertragung" oder "Identifizierung".

DIE FURCHE: Und wie sah die ideologische Weitergabe der Täter nach dem Krieg aus?

Brainin: Auch hier gab es im kollektiven Gedächtnis eine Identifizierung -interessanterweise vor allem der Enkel mit den Großeltern. Wie sehr rechte Ideologien an die nächsten Generationen weitergegeben werden, haben Forscher der Uni München herausgefunden: Dort, wohin die ehemaligen Nazis geflüchtet sind und sich später in Verbänden wie dem VdU organisierten, erlangt die FPÖ bis heute besonders viele Stimmen. In der Soziologie spricht man insgesamt von einer "politischen Halbwertszeit" des kollektiven Gedächtnisses, wobei der Historiker Charles S. Maier der Erinnerung an den Nationalsozialismus in der Gesellschaft die Qualität von Plutonium zuschreibt, "das die Landschaft mit seiner destruktiven Strahlung auf Jahrhunderte verseucht ".

DIE FURCHE: Das Jahr 2018 steht im Zeichen des Gedenkens -auch an den "Anschluss" an Nazi-Deutschland im März 1938. Lange hat es geheißen, Österreich sei Hitlers "erstes Opfer" gewesen. Wie war das möglich?

Brainin: Das war natürlich keine kollektive Amnesie und kein Vergessen, sondern ein bewusstes Vertuschen, Verschweigen und Lügen. In einem Staat muss es jedenfalls so etwas geben wie ein offizielles Gedächtnis, man muss sich darauf einigen, wie man Ereignisse benennt und sich erinnert.

DIE FURCHE: Mit welchen Gefühlen betrachten sie vor diesem Hintergrund die abermalige Regierungsbeteiligung der FPÖ?

Brainin: Die Vorstellung, dass Burschenschafter aus schlagenden, deutschnationalen Verbindungen, deren Mitglieder in der bereits angesprochenen Weise in der Aula über Überlebende geschrieben haben, nun Regierungsverantwortung tragen, ist beunruhigend. Das sind ja keine Ausrutscher, das passiert ständig. Diese FPÖ ist ein anderes Kaliber als die FPÖ des Jahres 2000! Man wird sich ansehen müssen, wie sich das auswirkt, auch kulturell: welche Theater gefördert werden, welche Leute Ehrungen erhalten, welche Denkmäler errichtet werden.

DIE FURCHE: Als eine der ersten Handlungen haben ÖVP und FPÖ beschlossen, die lange geforderte Errichtung einer Gedenkstätte im ehemaligen Vernichtungslager Maly Trostinec im heutigen Weißrussland zu unterstützen, in dem auch Jüdinnen und Juden aus Österreich ermordet wurden

Brainin: Diese Gedenkstätte hätte langst geschaffen gehört! Sie konnte von der letzten Regierung aber nicht beschlossen werden, weil die ÖVP dies verhindert hat. Nun soll das Mahnmal instrumentalisiert werden, um Strache und seiner Partei ein Alibi zu verschaffen, frei von Antisemitismus zu sein. Aber ob das die FPÖ von ihren braunen Flecken befreien kann, wage ich zu bezweifeln.

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