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Vom Erlebnis zur Geschichte

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Vierzig Jahre später - haben wir den Zeitpunkt erreicht, mit dem, aufs Ganze gerechnet, aus dem Erlebnis Geschichte wird? Verflossenes, dessen Bedeutung sich nur graduell von anderem Verflossenen vor 60, vor 100, vor 200 Jahren unterscheidet? Verflossenes, das die Menschen nicht mehr so unmittelbar packen, aufwühlen kann wie das, was sie vor kürzerer Zeit erlebt haben?

Solange es noch Menschen unter uns gibt, die selbst „dabei“ waren, damals, vor vierzig Jahren, auf welcher Seite immer, unter den jubelnden Massen am Heldenplatz oder im ersten Transport nach Dachau, in den Marschkolonnen auf dem Weg nach Rußland oder hinter dem Stacheldraht, solange werden sie die Erinnerung an jene Jahre, durch die sie geprägt wurden, nicht loswerden, werden sie jene Ereignisse aus der Sicht des eigenen Erlebens zu interpretieren suchen. Aber nicht nur für sie verliert die Erinnerimg allmählich an Konturen, selbst wenn die Forschung immer noch neue, unbekannte Details aufdeckt. Ihre Zahl wird geringer; die Zahl jener, die keine Erinnerung an Anschluß, Krieg und Bombennächte mehr haben, wächst. Wer „damals“ aktiv mitgemacht hat, zählt heute bereits zu den Alten. Die Kinder, die in diesen Tagen in der Schule zum ersten Mal mit jenen Ereignissen konfrontiert werden, haben Eltern, die in ihrer Mehrzahl erst nach dem Stichtag geboren wurden. Sie müssen zu den Großeltern gehen, wenn sie fragen wollen, „wie es wirklich war“. Für sie ist Geschichte, was die Großeltern erlebt haben. Und weil sich Erlebnis und geschichtliche Wahrheit selten dek-ken, weil sich auch die geschichtliche Wahrheit verschieden präsentiert, je nach dem ideologischen Standpunkt, den der Betrachter einnimmt, bleibt der Ubergang vom Erlebnis zur Geschichte auch weiterhin problematisch.

Um so wichtiger ist es, jetzt, mit diesem Abstand, Bilanz zu ziehen, was -heute noch - unter dem Strich aus dem Erleben der heute alt Gewordenen übriggeblieben ist, was heute noch Geltung hat. Zu fragen, woraus die Jungen doch lernen könnten und sollten. Die Toten dieser Zeit sind nicht vergessen, sie bleiben als Mahnung. Aber die Wunden sind vernarbt, nur gelegentliche Wetterstürze lassen sie nachklingen. Auch wenn die Wunde nicht durch Granatsplitter verursacht, der Wettersturz nicht auf ein atlantisches Tief zurückzuführen ist.

Was geblieben ist, ist das Bekenntnis zu diesem Staat, den - einst - „keiner wollte“. Ohne Hurrapatriotismus, aber mit einem gesund-kritischen Zugehörigkeitsgefühl. Er steht außer Debatte. Daran können auch keine Raunzerei, kein Streit um die Existenz einer österreichischen Nation etwas ändern.

Was geblieben ist, ist auch das Bekenntnis zu jenem System parlamentarischer, von mehreren Parteien getragener Demokratie, wie es nun seit mehr als dreißig Jahren in Österreich praktiziert wird, ob in großer Koalition, in Alleinregierungen - oder vielleicht demnächst in einer kleinen Koalition. Alles Unbehagen gegenüber Parteienallmacht und -bürokratismus • konnte den Möchtegerndemagogen von links und rechts kein Feld bereiten, von dem aus sie in der Lage wären, dieses System ernstlich in Frage zu stellen.

Diese beiden Punkte können als starke Aktiva in die Bilanz eingetragen werden. Sie stehen wohl auf so festem Boden, daß sie auch nicht durch eine Verschlechterung der allgemeinen Lage, durch ein Verblassen der Lehren von 1945 zum Einsturz gebracht werden können. Aber was blieb noch?

Der wirtschaftliche Wohlstand, die gute Aktivierung des anfangs ungewohnten, oktroyierten Neutralitätsstatus - sie sind wohl erst indirekt auf dem Boden gewachsen, der durch die ersten beiden Phänomene bereitet worden war. Beides aus der Kraft der Gemeinsamkeit, aber auch untrennbar verbunden mit der Welt außerhalb Österreichs.

Was aber ist aus dem hohen Maß an Verständigungsbereitschaft geworden, mit dem man in den Jahren nach dem Neubeginn dem andern gegenübertrat, wer auch immer der andere war? Gewiß, der Proporz feierte damals seine Triumphe - aber war nicht gerade er die nicht sehr feine Schlußfolgerung, daß man eben verschiedene Kräfte, verschiedene Meinungen nebeneinander zur Kenntnis nehmen mußte? Nimmt nicht heute die Intoleranz in erschreckendem Ausmaß zu? Der andern Partei, der Minderheit, dem Fremden gegenüber? Wen wundert's, daß Druck Gegendruck erzeugt? Wenn diese Intoleranz das Mißtrauen gegeneinander immer stärker werden läßt?

Der Übergang vom Erlebnis zur Geschichte sollte auch das bewerkstelligen, was rrian allgemein als „Bewältigung“ bezeichnet, ohne daß diese wieder durch die erwähnte Intoleranz in Frage gestellt wird. Haßerfüllte Verzerrungen spätpubertärer Jugendlicher — war die „Staatsoperette“ nur eine Ausnahmserscheinung? — können hierzulande ebensowenig beitragen wie die unbelehrbare Verdrängung geschichtlich längst belegter Tatsachen.

Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte ist notwendig. Sie muß auch die Wurzeln aufdecken, aus denen heraus die Ereignisse so gekommen sind und nicht anders. Für die Bilanz aber ist auch die Bereitschaft notwendig, dem andern zuzuhören, wenn er begründet, warum gerade er damals auf gerade dieser Seite gestanden ist Diese Bereitschaft, den andern als unverwechselbares Einzelwesen anzuerkennen und ihn nicht nur diesem oder jenem Kollektiv zuzuzählen und danach zu beurteilen, sollte uns helfen, die Endbilanz zu ziehen und - vielleicht - doch einmal aus der Geschichte zu lernen.

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