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Die Filmnation

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Ein Franzose hat das technische Prinzip des bewegten Bildes entdeckt, den Film haben die Amerikaner gemacht. Ein Deutscher wird einmal der Shakespeare des Films werden, aber es wird sich erweisen, daß dies nur ein Seitenweg, vielleicht sogar ein Irrweg wird gewesen sein, denn es wird Kunst sein, Film aber ist — Film. Film werden die Amerikaner machen. Es liegt ihnen im Blut, sie sind die Filmnation. Bar alles Kunstkomplexes, haben sie als erste und bisher einzige Nation der Erde in dem Film keine neue Kunst, keine kommende Kunst, keine „Schwesterkunst“, keine Pseudokunst vermutet oder heraufdisputiert, sondern instinktmäßig, im ersten Augenblick eine völlig neue Art, die Wirklichkeit auf einer völlig neuen Ebene (auf einer völlig anderen als der Kunst) zu sehen, erkannt, für die man noch keinen Namen hat; vielleicht wird es auch nie einen anderen, besseren ails „Film“ geben. Das ist das Mühelose, Ungequälte, Selbstverständliche, das „Realistische“, das uns immer wieder am amerikanischen Film auffällt (und erfreut), im anderen Falle hemmt ein abendländisches Hochempfinden, die europäische Kunstmethodik (auch in Rußland oder Japan), ein natürliche Entwicklung.

Einem amerikanischen Film wie „A n n a und der König von Sia m“ können die Merker Prunkliebe, geschichtliche und kulturgeschichtliche Freizügigkeiten und unbedenkliche Scntiments übelnehmen. An das hinreißend Filmische dieses monumentalen historischen, kulturhistorischen, politischen und charakterologischen Aufrisses kommt keine Kritik heran. Die Fabel greift in tatsächliche Begebenheiten der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, da eine englische Erzieherin am Hofe des Königs Paramindr Maha Mongkut von Siam durch ihren klaren Sinn und ihre Herzensbildung auf die Mission des Königs einen weitgehenden Einfluß nimmt, der aber erst in dem Kronprinzen und späteren König Paramindr Maha Chulalongkorn (1868 bis 1910), in seinen Bestrebungen um den Anschluß an die europäische Kultur, der Duldung der christlichen Mission und anderem zu voller Entfaltung kommt. Am Beginn des Films liegt der Schwerpunkt auf den novellistischen Zügen der Erlebnisse der Frau, unbemerkt aber entwickelt sich daraus ein zutiefst ergreifendes staatspolitisdies Drama, die Herrschertragödie und Weltwendetragödie eines Unermeßliches Wollenden und letzten Endes Scheiternden, das Mosesschicksall eines Führers, der das lichte Land schaut, aber an seiner Pforte gefällt wird. Ein Film gewaltiger Konturen. Noch einmal: kein Kunstwerk im herkömmlichen Sinn“. Aber ein großer Wurf als Film.

Etwas von diesem filmischen Atem hat auch noch ein anderer Film aus Amerika, „Yankee Doodle Dand y“, wenngleich ihm weniger gesdiichtjlidie Tragik, als vielmehr die Fülle eines typisch amerikanischen Jahrhundertschicksals, Leben und Werke eines ungeheuer populären Revue-und Schlagerkönigs, George M. Conans, Vorläufen Ziegfelds, am Herzen liegt. Ein schöner, ernster, breiter Film, an dem uns lediglich die patriotische Propaganda in Seidenhöschen stört.

„M ademoiselle X“ (franz.) ist ein Kammerspiel mit allen formalen Vorzügen und stofflichen Freiheiten des intimen französischen Stiles. Ein ästhetischer Leckerbissen, der von Sacha Guitry stammen könnte. Bei allen optischen Finessen stark der Bühnentechnik verhaftet und stellenweise von schleppendem Tempo. Trotz dem sehenswerten Augenspiel und dem hörenswerten Dialogflorettstechen ist eine gewisse seelische Blässe der Figuren unverkennbar. Made-moiselle X, Monsieur Y bleiben Unbekannte. Die Gleichung, der Film, löst sie nicht.

Mit der Betrachtung eines anderen französischen Filmes der Woche, „D er ewige Bann“ (vor Monaten in Originalfassung, jetzt mit sehr schön differenzierten deutschen Doublestimmen im allgemeinen verständnisvoll synchronisiert), klingt das eingangs aufgeworfene Problem wieder an. Jean Cocteau, der dämonische Romantiker, der E. T. A. Hoffmann des französischen Filmes, greift mit dem literarischen Ehrgeiz des europäischen Künstlers nach dem Tristan-Stoff, ein Wagnis, das wir schon an Faust und Peer Gynt erlebt haben. Auch dieser Tristan im Frack ist bei aller Anerkennung des künstlerischen Ernstes des Films ein ästhetischer Bastard. Er ist nicht mehr Kunst und noch nicht Film. Er leidet am — europäischen Film.

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