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Die verlorene Dimension

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Und einer auf großer Fahrt, sie wieder zu entdecken: Jean Cocteaus Film „Orpheus“

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Und einer auf großer Fahrt, sie wieder zu entdecken: Jean Cocteaus Film „Orpheus“

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Mit dem Ton begann das Drama, das sich in unseren Tagen zu vollenden droht: die Phan-tasielosigkeit des Films. Wie Keulenschläge fallen im heutigen Film die Ereignisse auf den Zuschauer. Warum geht man eigentlich noch selber ins Kino und schickt nicht einfach die Augen und die Ohren hin? Es ist doch so leicht geworden, alles zu verstehen, was „geschieht“, und was so ein englischer oder russischer Spionagefilm „meint“. Alles ist klar, alles ist laut. Ist es nicht erschütternd, wenn Bela Baläzs 25 Jahre nach seinem hellsichtigen Lob des Stummfilms dem Tonfilm vorwirft, daß er seine große Chance, die Entdeckung der realen kosmischen Klangkulisse, verpaßt habe? Der Film hat sie entdeckt. Leider. Er ist — um dert Preis einer ganzen Dimension — wahr geworden. Aber es gibt etwas, sagt Jean Corteau, was wahrer ist als wahrl (Cocteau erzeugt freilich nicht Krawatten oder Filme, er ist bloß Künstler.)

Jean Cocteaus Bühnendrama „Orphee* („Orpheus“) fällt in das gleiche Jahr (1926) wie „Lettres k Maritain“, sein bedeutsamer Briefwechsel mit Maritain über die katholische. Idee. Das ist kein Zufall. Denn wenn Cocteau jetzt auch in einer persönlichen Botschaft an die Wiener Erstaufführung der Filmfassung des „O r p h e u s“ versichert, daß das Religiöse in diesem seinem neuen Film vorerst unberücksichtigt“ bleibe, so ruht es doch am Grunde des Films, mindestens in der unantiken Gestalt der .Tödin“ (La Mort“) und ihrer um höchsten Preis alles überwindenden Liebe, die, trotz allen Verschlingungen, Uberdeckungen und Verschweigungen des Films doch das Hauptmotiv zu sein scheint. Mit dieser Gestalt allein schon ist .Orpheus“ über die bloße Übertragung der alten Sage in modernes Kleid hinaus stark in das ureigene Cocteausche Reich romantisch-mystischer Deutung gerückt. Und hier beginnt die Schwierigkeit. Denn der Zugang zu diesem Reich ist mit hundert Schleiern der Symbolistik und Rabulistik verhangen, hier mit den unheimlichen, schwer zu deutenden Ideen von Leben, Tod und Gericht, wie sie sich etwa auch bei Kafka fftiden, und mit jenen Formen eines versnobten Surrealismus, der gerne den Fuß statt den Kopf auf den Kragen setzt und dem Zuschauer die Deutung überläßt, die der Künstler selbst nicht recht kennt. S ist es auch nicht weiter verwunderlich, wenn ein sehr gewähltes Wiener Premierenpublikum wohl im einzelnen die Tiefen und Schönheiten des Films nachempfand, dem Gesamtwerk aber am Schluß ein betretenes Schweigen entgegensetzte.

Die Feststellung dieser vielsagenden Reaktion“ — in beiden Sinnen des Wortes! — ist wichtiger als alle weiteren Versuche von Ausleuchtungen des dunklen, künstlerisch tapferen, aber — wie immer bei Cocteau — nicht künstlerisch vollendeten Werkes. Der Film überhaupt hat das Publikum schrittweise herz-und himträg, zur willenlosen Claque seines stumpfen Realismus gemacht. Mari* will uns immer wieder einreden, daß es umgekehrt gekommen ist. Es ist nicht wahr. Hier soll nicht einer unvolkstümlichen Experimentierwut das Wort geredet werden. Aber wenn der Film Orpheus“ in seinem rasanten Angriff auf die Phantasiemüdigkeit bei aller seiner Unvoll-kommenheit nichts anderes erreicht, als daß wir Publikum, wir Verdorbenen, wir: vulgäre Sexualkonflikte und faustdicke Haßtendenzen wie schmierige Bonbons Lutschenden w i e-d e r lernen, im Film über das Schauen und Hören hinaus, auch zu denken und zu fühlen, zu kombinieren und zu phantasieren, dann hat „Orpheus“ vieles, alles erreicht. Er kann sogar eine neue Epoche des Filmempfindens einleiten.

Wenn nicht, geht er unter — einen Tag nach dem Publikum und dem Produzenten.

(Nachsatz für die letzteren: Orpheus war jener Sänger, der nach der griechischen Sage durch die Gewalt seiner Leier die wilden Tiere zähmte und Bäume und Felsen in Bewegung setzte. — Es scheint also noch nicht alle Hoffnung verloren.)

Man muß nicht eigentlich wissen, daß Sacha Guitrys jüngster Film „Der hinkende Teufel“ von dem Autor als Alibi für den Vorwurf der Kollaboration mit der deutschen Besatzung gedacht war; die zweckbedachte Retuschierung des historischen Porträts seines Titelhelden Talleyrand ist auch so mit den Händen greifbar. Der ungeistliche Lebenswandel des verheirateten Bischofs“ ist historisch. Daß Talleyrand aber seit 1802 von der Kirche laisiert und ohne Dispens verheiratet lebte; hätte vom Film, der beim Service der prickelnden Amouren eine Art genießerischer Übergründlichkeit entwickelt, doch auch kurz gesagt werden müssen. Verschwiegen wird im Film auch die persönliche Habgier und Skrupellosigkeit, die das Charakterbild dieses politischen Genies, dieses geistvollen Repräsentanten aristokratischer Kultur des 18. Jahrhunderts, beflecken. Sacha Guitry aber ist, der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe, richtig verliebt in seinen Helden. Und Liebe macht blind. So wächst aus dem Film ausschließlich ein liebenswerter Charmeur und geistreicher Causeur, ein hundertprozentiger Franzose und ein wendiger, erfolgreicher Diplomat von Format — das Gemeinsame mit dem Schöpfer des Films springt in die Augen ... Der Film hat große, kluge und frivole Szenen. Er ist ein Faun mit Shakespeare-Zügen. In der historischen Treue hinkt er. Der Teufel auch.

Das Dämonische, Zwielichtige der Fabel des einstigen deutschen Films „Verwehte Spuren“ (auf der Pariser Weltausstellung wischen Staatsräson und Fremdenverkehr einen pesterkrankten Mensch richtiggehend von der Erdoberfläche weg) ist in der neuen englischen Fassung, W eltaustellung Paris“, zum bürgerlichen Abenteuer verflacht. Zwei Abweichungen von der Originalfassung sind nicht ganz verständlich. Die Pariser Atmosphäre Anno 1789 ist gut getroffen.

„Weg der Sünde“, ein schwedischer Film, der völlig unverständlich das Abrutschen eines Mädchens aus bürgerlicher Sphäre schildert, hat mehr Sorgfalt auf die schmackhaften und brutalen Szenchen als auf die Psychologie und Soziologie des tödlich ernsten Themas gelegt. Einige falsche Spitzentöne der sonst sehr bemühten Wiener Synchronisierung unterstreichen das schmierige Pathos. Man kann doch nicht nach Art bestimmter Haustiere im Schmutze wühlen und, dann wieder, ganz „Lehrer“ und „Erzieher“, den sauber gewaschenen Zeigefinger erheben: „Seht her, seht nur genau her: so darf man es nicht machen!“ Das heißt man, das Publikum dümmer machen als es ist. Schärfstens abzulehnen. Roman Her 1 e

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