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Ein Bürger — was ist das?

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Bürgerlichkeit, Konservativismus, Establishment: Steigerungsformen für veraltete, saturierte und verachtete Systeme, Begriffssündenböcke für das Unbehagen einer neuen Gesellschaft an ihrer eigenen Vergangenheit. Sie können auch als Beweis und taugliches Demonstrationsobjekt für den raschen Wechsel und die Verquerung der ideologischen Fronten dienen. Der“ Wiener Publizist Roland Nitsche nimmt dazu in einem neuen Sachbuch Stellung. .

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Bürgerlichkeit, Konservativismus, Establishment: Steigerungsformen für veraltete, saturierte und verachtete Systeme, Begriffssündenböcke für das Unbehagen einer neuen Gesellschaft an ihrer eigenen Vergangenheit. Sie können auch als Beweis und taugliches Demonstrationsobjekt für den raschen Wechsel und die Verquerung der ideologischen Fronten dienen. Der“ Wiener Publizist Roland Nitsche nimmt dazu in einem neuen Sachbuch Stellung. .

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Der Titel provoziert. „Der häßliche Bürger“ ist kein Schmäh- und Schiimpfbrevier für Antibürger aller Schattierungen, keine engagierte Abrechnung mit dem Wohlstandswirt und erst recht keine Prognose über die Zukunft des Liberalismus. Nitsche bietet seinen Lesern eine im Grunde recht solide, journalistisch flüssige und stellenweise mit Zynismen gewürzte Wirtschaft- und Sozialgeschichte Mitteleuropas von den Karolingern bis zur Gegenwart. Die letzten 200 Jahre nehmen dabei den meisten Raum ein. Seitenblicke und Exkurse in die Literatur und die Kunst, in die Philosophie und in die Religion verdeutlichen die Zusammenhänge.

Des Autors Anliegen scheint es zu sein, für ein gerechtes Urteil über den „dritten Stand“ zu plädieren. Dieses Anliegen ist legitim, wenn man bedenkt, wie verzerrt das Bild des Bürgers heute ist. Das Zurückgreifen in die Geschichte ist schon deswegen notwendig, weil es in und aus der Gegenwart allein gar nicht mehr möglich ist, den ,3ürger“ zu definieren. Der häßliche Bürger“ unterstellt, daß es den Bürger immerhin noch gibt. Darüber wäre zuerst zu diskutieren). Wobei eine radikale Meinung auch behaupten könnte, der Bürger sei längst tot und das, was von ihm geblieben ist, sei nur der Verwesungsgeruch. Dieselbe radikale Meinung wird den Autor verächtlich als „bürgerlich“ abstempeln, weil er diesen Tod des Bürgers nicht proklamiert — nicht einmal als Wunschbild. Nitsches Denken ist zu sehr historisch, um daran zu glauben, daß ein geschichtlich so gewachsener und ausgefalteter Menschentyp wie der „Bürger“ einfach abrupt zugrunde geht. Er versucht es mit dem Begriff des „Arbeiterbürgers“. Das ist jedoch ein Uniglück der Wortwahl, denn auch der „Arbeiter“

ist schon passe. Roland Nitsche hat es leider unterlassen, die vergleichende Verhaltensforschung und die Tiefenpsychologie zu befragen. Von dort her käme der Bescheid, daß bestimmte Verhaltensweisen und Typen des Menschen, einzeln und in Gruppen, ein Gruedimuster bilden, welches mit dem des „Bürgers“ weitgehend übereinstimmt. Und insofern dieses unbewußte Grund-muster erhalten bleibt, sterben auch die „bürgerlichen“ Eigenschaften nicht aus. Nitsche betont jedoch den sozialen Aspekt. „Erst die Lebenssicherheit, die eine Beamtenstellung, ein Handwerksbetrieb, ein Ruhegenuß, ein Hausbesitz, eine Lebensversicherung bot, machte ein Leben wirklich bürgerlich.“ (Seite 256, 257.) Er erkennt richtig, daß das Proletariat weiter nichts als ebenfalls Verbürgerlichung anstrebte. Da stellt sich doch die dringende Frage: Warum? Warum strebt der Mensch selbst neben der Atombombe, dem Computer und der Mondrakete nach „Rente im Herzen und Höhensonne im Heim“? Dieser Bürgertrieb ist es, der bleiben wird. Er wird eines Tages ein historisches Phänomen, das es schon lange nicht mehr gibt, verewigen — so wie König ödipus in dem nach ihm benannten Komplex unsterblich geworden ist Die Geschichte, die dieses Werk vor dem Leser ausbreitet, ist in vielen Details nur allzu bekannt. Ungewöhnlich ist die Perspektive. Hier gelingt Roland Nitsche eine scharfsinnige Analyse der bestimmenden Mächte. Die „Phasenverschiebung“ geistiger und wirtschaftlicher Entwicklungen in Mitteleuropa führte mitunter zu jenen paradoxen Frontwechseln, die den Revolutionen wie ein Satyrspiel folgen. Die speziell für den deutschen Spracbraum bedauerliche Tatsache, daß die „Dichter und Denker“ meistens die herr-

sehenden Mächte legitimierten, tritt hier ebenso zutage wie die soziale Sprengkraft literarischer Bewußtseinsverschiebungen, die allerdings selten im deutschen Sprachraum begannen.

Obwohl das Buch kein wissenschaftliches Werk ist, wünschte man sich auch im zeitgeschichtlichen Teil die Quellen genauer zitiert. „Einer der bekanntesten liberalen Publizisten der Schweiz“ (Seite 274), „In einer Stellungnahme junger evangelischer Theologen der Universität Bern“ (Seite 22) oder „auf einem deutschen Dichtertag“ (Seite 283) und „Diese Gesellschaftskritik war in einer rechtsbürgerlichen Wiener Tageszeitung zu lesen“ (Seite 284). Wann und wer, bitte? Gesunde Skepsis gegenüber den Methoden der Futurologie ist am Platze. Roland Nitsche ist zuzustimmen, wenn r sich gegen eine Vorausberechnung des Menschen ausspricht Der Leser hätte dennoch etwas mehr Optimismus und den Versuch, der Futurologie den wichtigen Platz anzuweisen, der ihr zukommt, erwartet. Aber Visionen und Prognosen sind dieses Buches Stärke nicht. Es ist ein außergewöhnliches Geschichtsbuch, eine Fundgrube von Argumenten und das Lied vom Aufstieg und Ende des Lilberailismus.

DER HÄSSLICHE BÜRGER. Leistungen — Versagen — Zukunft. Von Roland Nitsche. Im Verlag Kremayr und Scheriau, Wien. 304 Seiten. S 145.—.

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