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Gedanken über Mladen

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Milutin Doraslovae, Jahrgang 1923, ist im Raum der alten Donaumonarchie •geboren (Bundapest) und aufgewachsen (Belgrad). Seit dem Krieg lebt er •in Wien als freier Schriftsteller, das ihm zur zweiten Heimat wurde. Mit seinen Romanen „Tote auf Urlaub” (1952) und „Nichts als Erinnerung” (1959), seinen’ Erzählungen, Essays und Hörspielen hat Milo Dor einen sehr wesentlichen Beitrag zur österreichischen, speziell zur Wiener Nachkriegsliteratur geleistet. Milo Dor gehört zu jenen Autoren, die sich des Deutschen als zweiter Muttersprache bedienen, und zwar mit einer Meisterschaft, die, obwohl sie die „Eierschalen” des Fremdsprachigen längst abgestreift hat, nie in Routine ausartet.

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Milutin Doraslovae, Jahrgang 1923, ist im Raum der alten Donaumonarchie •geboren (Bundapest) und aufgewachsen (Belgrad). Seit dem Krieg lebt er •in Wien als freier Schriftsteller, das ihm zur zweiten Heimat wurde. Mit seinen Romanen „Tote auf Urlaub” (1952) und „Nichts als Erinnerung” (1959), seinen’ Erzählungen, Essays und Hörspielen hat Milo Dor einen sehr wesentlichen Beitrag zur österreichischen, speziell zur Wiener Nachkriegsliteratur geleistet. Milo Dor gehört zu jenen Autoren, die sich des Deutschen als zweiter Muttersprache bedienen, und zwar mit einer Meisterschaft, die, obwohl sie die „Eierschalen” des Fremdsprachigen längst abgestreift hat, nie in Routine ausartet.

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Milo Dors neuer Roman heißt „Die weiße Stadt”, was wörtlich übersetzt „Belgrad” bedeutet. Aber man kann sich auch ebensogut Wien darunter vorstellen. Denn hier spielt ein Großteil der Ereignisse. Die autobiographischen Züge, die er seinem Helden Mladen Raikow verliehen hat, sind unübersehbar. Wie er, war auch der Autor schon auf der Schulbank dn verschiedene revolutionäre Unternehmungen verwickelt, lernt Verhör, Straflager und Verschickung als Fremdarbeiter kennen und läßt sich schließlich in Wien nieder, wo er einen Antiquitätenladen führt. (Vielleicht ein Wunschtraum?) Obwohl zahlreiche Personen nach der Wirklichkeit gezeichnet sind, möchten wir die „Weiße Stadt” doch nicht als Schlüsselroman bezeichnen. Da gibt es einen Hofrat Gerhardt, die graue Eminenz des Unterrichtsministeriums, „dazu prädestiniert, alle politischen Wirren und die damit verbundenen Regime zu überdauern”, der „über eine lächerliche Bestechungsaffäre” stolpert, die „von einem kleinen pedantischen Steuerprüfer” aufgedeckt wurde. Da gibt es einen zweiten Hofrat namens Thaler, der seinen Sitz im Rathaus hat, Künstler betreut und ihnen zu Gemeindewohnungen verhilft, mit dem man seine Anliegen am besten im „Klub sozialistischer Akademiker” bespricht; da gibt es den Freund Raikows, Paul Freimann, dessen Modell wir zu erkennen glauben, es gibt den kahlköpfigen „letzten großen Operettenkompo- nisten” mit seiner Frau, es gibt den Ball des „Theaters in der Josefstadt” und zahlreiche genau bezeich- nete Gassen, durch welche die meisten Begebenheiten im 8. Wiener Gemeindebezirk lokalisiert werden.

Originell und neuartig, aber gar nicht konstruiert wirkend, ist die epische Technik dieses Romans, der aus neun Interviews mit verschiedenen Personen sowie einigen mehr oder weniger selbständigen Kapiteln besteht, wie „Die Mechanik der Seele”, „Capriccio über das Warten”, „Die Schattenjäger — ein Ballett”, „Die Friedhöfe in der Sonne” und andere. Der Roman beginnt mit einem Interview des Autors mit sich selbst und endet mit den „Perspektiven”: Ausblicke auf die möglichen Lebensläufe des Mladens nach Absolvierung seiner Lehr- und Wanderjahre. Durch die Interviews mit Freunden und Bekannten M. Raikows entsteht ein von allen möglichen Seiten angeleuchtetes plastisches Bild des Helden, den der Autor beziehungsweise die Interviewten aus jeweils verschiedenen Perspektiven sehen und schildern.

Aber dies ist nur der äußere Rahmen. Wichtiger ist die menschliche Substanz (des Autors und seines Helden) sowie die kraftvolle, farbige exakte und transparente Sprache. Auf diesem Gebiet meidet Milor Dor jederlei Experiment, ist weder abstrakt noch manieriert oder forciert einfach, sondern beschreibt die Menschen und Umstände wie sie sind oder wie sie waren: Sehr direkt zuweilen und realistisch, aber immer sehr menschlich und mit einem Charme, der für so viele slawische Autoren charakteristisch ist. Und ohne daß es lyrische Passagen in diesem Roman gäbe, hat er sehr viel Stimmung, sehr viel Farbe, sehr viel Atmosphäre und ist erfüllt von dem sehr verschiedenartigen und charakteristischen Fluidum der beiden Heimatstädte des Autors, dem der „Weißen Staat und dem ein wenig morbiden des Nachkriegswien. — Zu sich selbst hat der Autor Distanz, seinen Gestalten gegenüber zeigt er Gerechtigkeit — eine der höchsten Tugenden des Epikers. Was den Leser aber — unbewußt natürlich — am meisten gefangen nimmt, das ist der sehr maskuline Charme des Spröden, den sowohl der Held des Romans “wie auch der Autor besitzen.

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