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Gemalde der Vereinigten Staaten

19451960198020002020

USA-Aufstieg zur Weltmacht. Volk, Wirtschaft, Politik. Von Andre Siegfried. Orell-Füssli-Vcrlag, Zürich. 283 Seiten. Preis 18 sfr.

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USA-Aufstieg zur Weltmacht. Volk, Wirtschaft, Politik. Von Andre Siegfried. Orell-Füssli-Vcrlag, Zürich. 283 Seiten. Preis 18 sfr.

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Das glänzende Werk des französischen Soziologen, erstmals 1927 erschienen und 1954 völlig umgearbeitet als „Tableau des Etats-Unis“ veröffentlicht, liegt nun in einer deutschen Uebersetzung vor, die im allgemeinen korrekt ist und die sich angenehm liest, jedoch an manchen der gewohnten Schwächen der meisten Uebertragungen krankt. Wenn Präsident Jefferson als „Gallier“ bezeichnet ■ wird, statt als „Waliser“ — Gallois ist von Gaulois zu unterscheiden —; wenn ohne weitere Erklärung von einer „moralischen Ordnung“ gesprochen wird, die den Radikalismus verabscheut, und wir dabei nicht erfahren, daß es sich um eine Anspielung auf den „Odre moral“, also auf die konservativ-katho-Jische Richtung handelt, die in Frankreich während der ersten Jahre der Dritten Republik das Feld beherrschte; wenn wir lesen, daß in den USA als Neger qualifiziert werde, wer ein Achtel schwarzes Blut, „das heißt einen Großvater oder eine Großmutter mit Negerblut hat“ — die Neger besitzen offenbar, zum Unterschied von den Weißen, nicht vier sondern acht Großeltern, und sie sind ihrerseits Neger, wenn sie nur überhaupt Negerblut, also irgendwelche Ahnen schwarzer Rasse haben —: dann ermessen wir, %\e sehr auch das geistreichste, das schönstgeschriebene Buch seinen Schmelz einbüßt, sobald es in die Hände des Tradittore-traduttore gelangt.

Davon abgesehen, ist das Werk auch in seiner deutschen Ausgabe dem des Französischen Unkundigen — doch nur ihm — sehr zu empfehlen. Denn Siegfried weiß eine schier unübersehbare Fülle von Kenntnissen und Erkenntnissen, von Beobachtungen, die er auf 15 Amerikafahrten gesammelt hat, vor uns aufs anmutigste auszubreiten. Mit jener Leichtigkeit, die leider nur französischen oder italienischen Gelehrten eignet und die bei deutschen Autoren zumeist nur auf Kosten der Fachkunde geht. In Siegfrieds Buch finden wir die eindringlichste Analyse der amerikanischen Volkssubstanz in ihren historischen Voraussetzungen, ihrer geographischen Verbreitung und ihrer Geistesart. Das beherrschende angelsächsisch-protestantisch-puritanische Element, die am schnellsten assimilierbaren Komponenten — Deutsche, Schweizer, Holländer. Skandinavier —, die aus religiös-kulturellen und aus rassischen Ursachen schwerer sich einfügenden Einwanderer aus den lateinischen Ländern, aus dem einstigen Oesterreich-Ungarn und dem früheren Zarenreich, die Neger, die jüdische Minderheit werden beschrieben, worauf der Verfasser die Summe zieht und die im amerikanischen Schmelztiegel entstandene Mischung schildert. Der nächste Abschnitt ist der Volkswirtschaft der USA gewidmet, dem Geist und den Methoden der Produktion, dem Nebeneinander von Serie und Qualität, der Ueberproduktion und det ihr entquellenden Depression, die dann durch Roosevelt und seinen Brain Trust im New Deal überwunden wird. Die neue Hochkonjunktur seit Pearl Harbor schließt den Wirtschaftsteil. Nun werden das Generationenproblem, die öffentliche Meinung und das sie beeinflußende Nationalgefühl, untersucht. So kann Siegfried sich den Fragen der inneren und äußeren Politik zuwenden. Von den Grundlagen des öffentlichen Lebens geht er zu den Parteien über, bespricht die Rückkehr der Republikaner zur Macht, dann Wesen und Wirken der Politiker and leitenden Beamten. Etwas knapp sind die Kapitel über die Außenpolitik geraten, in denen die Erörterung der Wirtschaftsexpansion überwiegt. Das, was zur Diplomatie und zu den weltpolitischen Zielen der USA gesagt wird, überschreitet nicht das Niveau wohlgepflegter Gemeinplätze. Der Band klingt aus in eine wehmütig-resignierte Weissagung, das heraufziehende Zeitalter Amerikas, das des allzu gemeinen Mannes, des erschreckend einfachen Menschen mit seiner Standardisierung, das des Homo faber, wird sich nur in drei, allerdings wesentlichen Punkten von dem sondern, was der Bolschewismus verwirklichen möchte: durch die auf Objektivität fußende Auffassung der Wissenschaft, durch die Achtung vor dem Menschen als Individuum und durch Bekenntnis zum Christentum, freilich in dessen alttestamentarischer Prägung, nicht in der hellenischen (und wir fügen bei, römischen). „Die von Europa vererbte Zivilisation wird unterwegs“ — nach dem neuen Mittelpunkt westlich des Atlantiks — „einige Partikel ihrer kontemplativen Geisteshaltung verlieren, wie auch etwas von der kritischen Haltung des Individuums, um sich nach einer neuen, mehr sozialen Auffassung der Menschenwürde zu orientieren.“ (Wir zitieren diesen Satz wörtlich aus der deutschen Uebersetzung, nicht nur um seines Inhalts willen, sondern auch um die fremdwortgespickte, unbeholfene Plumpheit der Uebertragung sichtbar zu machen.)

Dem Bande sind 36 Abbildungen nach neuen Reiseaufnahmen des Schweizers Emil Schultheß beigegeben, die als photographische Leistung und als Reproduktionen Anerkennung heischen, doch in keiner Weise als harmonische Ergänzung des Textes anzusehen sind. Was haben der Times Square bei Nacht und das Gebäude der Radio Corporation of America inmitten der Einwandererstatistik zu suchen? Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Hängebrücke von Golden Gate und dem Verkauf auf Abzahlung oder der Reklame, die neben-seitie gewürdigt werden? Der Mangel eines Registers stört.

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