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Kunst und Kitsch in der Musik

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Es steht fest, daß heute der überwiegende Teil der Menschen — vielleicht 80 bis 90 Prozent — der Unterhaltungsmusik anhängt und die sogenannte „ernste Musik" links liegen läßt. Ist dieser Zustand „normal“, war es immer schon so? Ist gegen diese Lage' etwas zu unternehmen oder müssen wir sie als unabänderlich, vielleicht sogar als erwünscht hinnehmen?

Zunächst ergibt sich aus der Betrachtung vergangener Epochen die oft nicht genügend beachtete Tatsache, daß es eine strenge Trennung ‘ von Unterhaltungsmusik und ernster Musik keineswegs immer gegeben hat. Wir hören mit Verwunderung und Erschütterung, daß eine Suite von Bach zu dessen Lebzeiten noch auf den Tanzböden um Leipzig getanzt wurde. Erst im späten 19. Jahrhundert trennt sich dann eine immer mehr großstädtisch gerichtete Unterhaltungsmusik schärfer von der übrigen Musik ab. In unseren Tagen ist die Trennung vollständig vollzogen. Während aber die leichte Musik im 19. Jahrhundert noch hohes Niveau bewahrte, ja in Johann Strauß’ Sohn geradezu ein Genie dieser Ridttung hervorbrachte, ist das Niveau der heute herrschenden Unterhaltungsmusik — von wenigen Ausnahmen abgesehen — meist betrüblich tief; sie pendelt Stil-, richtungs- .und gehaltlos zwischen dem Niggerjazz und der faden Süßigkeit des neueren Wiener Liedes hin und her.

Diese Erscheinung hängt mit dem allmählichen Zerfall des Organischen im Völkerleben zusammen. Der gegliederte Organismus Volk gleitet allmählich in die mechanisch zusammengewürfelte Masse hin über. Immer abwehrender und isolierter wird gegenüber diesem Vermassungsprozeß die Stellung der ernsten Muse. Die Romantik fühlt sich zwar wie kaum eine andere Bewegung ins Herz des Volkes ein, trotzdem müssen die. Musiker in literarischer Fehde ihre Stellung verteidigen. Man denke an den, Kampf Schumanns gegen die Philister und an die Polemiken der Wagner-Brahms- Bruckner-Zeit. Und daß die Romantik das Volk so beharrlich umwirbt, zeigt, daß der Begriff Volk bereits problematisch geworden ist. Die erste Stufe einer Sozialerkrankung bahnt sich an. Die Früchte der Romantik sind demnach nicht nur die uns bekannten unvergänglichen Werke; auch Kitsch als Massenerkrankung gibt es erst seit dieser Zeit. Schlechte Werke hat es zu allen Zeiten gegeben; aber erst im 19. Jahrhundert entstehen Werke, die Echtes, Naives, Naturhaftes bloß vortäuschen, also mit einem Wort unecht, „kitschig“ sind. Mit der fort- schreitenden Industrialisierung geht die Massewerdung, damit der weitere Geschmacks verfall parallel. Im Bereich der Musik ist der Schlager Träger dieser Richtung in unserer Zeit. Die ernste Musik aber beschränkt sich anscheinend auf ein immer kleiner werdendes bürgerliches Konzertpublikum; soweit es sich um Gegenwartsmusik handelt, ist der Kreis der Interessierten noch kleiner, er wird zur Gemeinde.

Die Gegenwartslage der Musik entpuppt sich so als ein Teil eines viel umfassenderen Problems. Es heißt: Wie wird die ungegliederte Masse wieder zum gegliederten Volk? Es würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen, wenn wir auf das Gesamtproblem eingehen wollten. Wir wollen daher nur aufzeigen, was von Seiten der Musik zur Lösung der Frage getan werden kann. Die gangbarsten Wege sind allerdings auch die falschen. Es ist sinnlos, mit Verboten den Kitsch ausschalten zu wollen, da er durch tausend Lücken wieder eindringt. Es ist auch wenig fruchtbar, gegen ihn zu donnern und etwa im Radio an Stelle der Unterhaltungsmusik ausschließlich ernste Werke darbieten zu wollen, da die auf leichte Musik eingestellten Zuhörer den Apparat einfach abschalten. Versuche, durch Appelle an die Komponisten wertvollere Unterhaltungsmusik zu schaffen, haben sich als fruchtlos erwiesen. Es hat auch keinen Zweck, die Arbeiter von der Drehbank weg ohne Vorbereitung in den „Parsifal"zu führen. Sie gehen mit einem verstärkten Gefühl der Fremdheit wieder weg. Auch die Ansicht, daß man von Revue und Operette her die Massen allmählich zu Beethoven bringen könnte, ist ein fundamentaler Irrtum. Ein besonders unerfreulicher Weg, der in der Wehrmachtsbetreuung im letzten Krieg nur zu oft beschritten wurde, war der der Vermanschung von ernst und heiter: ein Schubert-Lied zwischen einem Steptanz und einem Akrobaten, ein Chopin- Walzer zwischen einem Equilibristen und einer Chansonsängerin! Hier ging man also noch weiter als die Liedertafeln älteren Gepräges, die zwischen dem „ernsten" und dem „heiteren" Teil wenigstens eine Pause einschalteten.

Der Hauptweg der Musik, auf dem sie helfen kann, Organisches wiecjerzugewinnen, geht über die richtig verstandene Musikerziehung. Diese hat von der Tatsache auszugehen, daß es nur wenige absolut unmusikalische Menschen gibt, wie experimentelle Untersuchungen ergeben haben. Die als solche bezeichnet werden oder die sich selbst so benennen, sind meist musikalisch zurückgeblieben oder verbildet. Sie hat ferner zu berücksichtigen, daß jeder nur bis zu der ihm durch seine Veranlagung gezogenen Grenze kommen kann. Es ist weder möglich noch notwendig, daß sich jeder bis zur Matthäuspassion oder zu den Symphonien Bruckners durchkämpfe. Es ist aber unbestreitbar, daß bei den meisten Menschen die Aufnahmsfähigkeit infolge des Mangels an erzieherischen Voraussetzungen weit unter der ihr gesetzten Grenze liegt.

Die Musikerziehung gliedert sich in eine solche für Kinder und in eine für Erwachsene. Die neuere Musikerziehung stellt mit Recht in der Schule das Volkslied wieder in den Mittelpunkt. Dies ist der fast jedem faßbare Ansatzpunkt, von dem aus Organisches wiedergewonnen werden kann. Die Musikerziehung für Erwachsene aber wird sich nur an einzelne Kreise wenden können. Es sind diejenigen Menschen, die das Bedürfnis haben, weiterzukommen als bis zum Schlager. Mittel, diesen Menschen zu helfen, sind vor allem die Anregung zum Selbstmusizieren, einführende Vorträge, theoretische Kurse, wobei die Behandlung der Elemente der Formenlehre einen Wegweiser bildet — damit sich der Hörer nicht im Chaos verliert — zur Förderung und Er-

Weiterung der Gemeinden. Oft ist es auch nötig, den Menschen erst einmal die Fürcht vor „schwerer“ Musik zu nehmen. Mitunter verbauen sie sich auch selbst den Weg, indem sie hinter die Musik dringen wollen und sich bei einer Bach-Fuge — in mißverständlicher Verallgemeinerung der Programmusik — hartnäckig fragen, „was der Komponist damit habe sagen wollen". Oft genügen da ein paar aufklärende Worte, um solche Mißverständnisse zu zerstreuen. Eine allgemeine Massenerziehung ist jedoch ergebnislos. Wo das Bedürfnis nach höherer Kunst einmal erloschen ist, ist nichts mehr zu erreichen.

Diė Hauptarbeit der kulturverantwortlichen Stellen aber müßte — neben der selbstverständlichen Förderung alles Wertvollen — auf strenge Trennung der ernsten Musik und der Unterhaltungsmusik gerichtet sein, da ein Überbrücken der Kluft heute zunächst unmöglich ist. Nur mit einėr sauberen geistigen Scheidung können wir Kulturland zurückerobern, mit Vermischung und Konzessionen alles verderben.

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