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Revolution als Alibi

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Während Deutschlands Schriftsteller dem allgemeinen radikalen politischen Engagement mit einer gewissen Abstinenz gegenüberstehen, reden die beiden aggressiven Stars der Gruppe 47 Enzensberger und Weiss der Revolution das Wort, was ähnlich der Kontroverse zwischen Scharang und Kolleritsch in Osterreich zu einem Wiederaufwärmen des Evergreens „Literatur und Revolution“ führte, eine Diskussion, die sich immer wieder an den berühmt gewordenen Aussprüchen Sartres, man könne kein Buch mehr schreiben, solange in der Welt ein Kind verhungert, oder Adornos, man könne nach Auschwitz überhaupt kein Gedicht mehr schreiben, emporrankt, um dann schließlich zu versanden. Diese Diskussion wirkt heute deshalb schon etwas verschimmelt, weil der Wert des geschriebenen Wortes wahrscheinlich überhaupt noch nie so gering war und der Schrei nach der Veränderung der Welt durch den Dichter oder Schriftsteller nur die Ohnmacht dokumentiert, mit der sich eine von der Gesellschaft vergessene Gruppe bemerkbar zu machen versucht.

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Während Deutschlands Schriftsteller dem allgemeinen radikalen politischen Engagement mit einer gewissen Abstinenz gegenüberstehen, reden die beiden aggressiven Stars der Gruppe 47 Enzensberger und Weiss der Revolution das Wort, was ähnlich der Kontroverse zwischen Scharang und Kolleritsch in Osterreich zu einem Wiederaufwärmen des Evergreens „Literatur und Revolution“ führte, eine Diskussion, die sich immer wieder an den berühmt gewordenen Aussprüchen Sartres, man könne kein Buch mehr schreiben, solange in der Welt ein Kind verhungert, oder Adornos, man könne nach Auschwitz überhaupt kein Gedicht mehr schreiben, emporrankt, um dann schließlich zu versanden. Diese Diskussion wirkt heute deshalb schon etwas verschimmelt, weil der Wert des geschriebenen Wortes wahrscheinlich überhaupt noch nie so gering war und der Schrei nach der Veränderung der Welt durch den Dichter oder Schriftsteller nur die Ohnmacht dokumentiert, mit der sich eine von der Gesellschaft vergessene Gruppe bemerkbar zu machen versucht.

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Die Surrealisten forderten, dichterisches Leben bis an die Grenzen des Möglichen zu treiben, was etwa Breton radikal in seinem berüchtigten Ausspruch kleidete: der einfachste surrealistische Akt bestehe darin, mit dem Revolver in der Hand auf die Straße zu gehen und blindlings in die Menge hineinzuknallen. Seitdem haben Materialaktionisten und Happeningveranstalter jeder Größenordnung versucht, die Wirklichkeit einzuholen. Die Frage aber, ob Benns Valse triste aus Nihilismus und Musik das Gefühl der Zeitgenossen nicht weit eher bestimmte als das Geschrei der Surrealisten gegen die sagenannte abendländische Kultur, bleibt offen. Die poetische Produktion setzt eine Wirklichkeit und revolutioniert dadurch das Gegebene, die surrealistische Aktion wird, in dem Augenblick, indem sie ihren artifiziellen Charakter und. damit ihre Gegenüber-Position zum Leben verliert, die Wirklichkeit nicht verändern, sondern höchstens imitieren. Was ein bei einer Materialaktion geschlachtetes Schwein im letzten von einem Schwein unterscheidet, daß sein Leben auf einer Schlachtbank lassen mußte, ist wahrscheinlich nur Eingeweihten bekannt. Bohrer versucht in seinem Essay eine Abrechnung nicht nur mit dem Surrealismus und seinem Wiederer-waehen in der gegenwärtigen Pop-und Underground Kultur, sondern auch mit den wichtigsten Autoren der Kursbuch-Linken, nämlich Enzensbeirger und Weiss. Dabei wird man eben das Gefühl nicht los, daß das Problem, ob Literatur die Gesellschaft verändern könne oder nicht, wie weit und warum überhaupt eine Art Trampelpfad geworden ist, auf dem sichs vorderhand bequem geht, oder überhaupt zum Alibi für eine Generation von Schriftstellern, welchen die eigene Standortbestimmung schwer geworden ist, weil sie, aus welchen Gründen wäre interessant zu untersuchen, ihre Funktion in der Gesellschaft verloren hat. Die im Kursbuch gestellte provokante Frage, was geschähe, wenn man Deutschlands Literaten oder Lektoren oder alle in diesem Genre Beschäftigten auswandern ließe, die ja die Antwort bereits, nämlich: „nichts“ enthält, zeigt nur die Hilflosigkeit zwischen zwei Ohnmächten, die Ohnmacht etwas Neues zu denken und die Ohnmacht zu handeln. Bohrer kommt zu dem Ergebnis, daß die Wiederentdeckung des Surrealismus nichts Neues einbrachte, „die Wiederholung des Banalen“ und des „Geheimnis des Alltagsleben: die jähe findige Entwicklung eines ästhetischen Materialismus.“ In Wieners Auf schrei: „Schafft die Wirklichkeit aib“, sieht er eine neue Mystik mit religiösem Hintergrund, in der pathetischen Begeisterung Peter Weiss für Che Guevara und Revolutionshelden dieses Kalibers, eine Abwendung vom Rationalismus der industriellen Zivilisation. Dem eigentlichen Problem, nämlich, dem Umgang mit dem Wort in einer etwa seit zehn Jahren von den Massenmedien beherrschten Wirklichkeit, weicht er aus. Daß die nimmermüden Helden der Revolution noch immer mit geschultertem Gewehr symbolisch für die Befreiung der Menschheit stehen müssen (Bäkunin is back in town),

ist weniger beängstigend, als daß gesellschaftskritische Ansätze ohne ideologischen Zündstoff wahrscheinlich weder für Dichter noch für Demagogen von Wert sind.

DIE GEFÄHRDETE PHANTASIE oder Surrealismus und Terror von Karl Heinz Bohrer, Reihe Hanser 40, DM 5.80.

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