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Die konsumierte Anarchie

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Seit Andre Breton im Jahre 1924 sein Manifest des Surrealismus verfaßte, hat sich der Geist, dessen totale Befreiung den Protagonisten des Surrealismus das Ziel jeder Kunstausübung schien, fast wie von selbst und ohne die peitschenden, als Schock zunächst gegen die Bourgeoisie erdachten Formulierungen immer wieder in eine neue Phase der Befreiung begeben, wobei sich gezeigt hat, daß der Begriff der totalen Freiheit selbst Marcuse, aber auch andere Befreier der Menschheit in keine geringe Verlegenheit versetzt.

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Seit Andre Breton im Jahre 1924 sein Manifest des Surrealismus verfaßte, hat sich der Geist, dessen totale Befreiung den Protagonisten des Surrealismus das Ziel jeder Kunstausübung schien, fast wie von selbst und ohne die peitschenden, als Schock zunächst gegen die Bourgeoisie erdachten Formulierungen immer wieder in eine neue Phase der Befreiung begeben, wobei sich gezeigt hat, daß der Begriff der totalen Freiheit selbst Marcuse, aber auch andere Befreier der Menschheit in keine geringe Verlegenheit versetzt.

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In den zwanziger Jahren mußte eine Bewegung, die, ausgehend von der Psychoanalyse Freuds, das Unterbewußte im Menschen als eine der Vernunft überlegene Kraft im Menschen definierte, am Stilempflnden der durchaus bürgerlich erzogenen Zeitgenossen sich reiben, was, wie man von gewiegten Anarchisten hören kann, Salz und Pfeffer jeder revolutionären Tätigkeit ausmacht. Inzwischen aber sind die Zündfunken längst verstoben, die Keller, in denen Künstler, sei es bei Carta in Paris oder in der Spiegelgasse in Zürich, ihre verruchten Ideen ausheckten, sind leer, die Cafes verweist, die surrealistischen und dadaistischen Dandys haben sich in alle Welt verstreut und keine Nachfolger gefunden. Den revolutionären Elan des Enttabuisierens, Enthemmens hat sich längst eine Industrie zunutze gemacht, die Kunst und Trivialität mit gleichem Erfolg auf den Märkten verramscht, womit die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft bis zu einem gewissen Grad uninteressant geworden ist.

Als bei den Maiunruhen in Paris an den Mauern Inschriften wie „Phantasie an die Macht“ zu lesen waren, schien etwas von dem feurigen Geist der Altvorderen des Surrealismus, Breton, Aragon und Eluard, dabeizusein. Dazu Marcuse: „Der Versuch, die kühnsten Ideen und Werte der Phantasie in die Wirklichkeit zu übertragen, ist neu und revolutionär. Er beweist, daß man Wichtiges begriffen hat: die Wahrheit liegt nicht nur im rationalen Bereich, sondern ebensosehr und vielleicht noch eher in dem der Phantasie.“

Diese nicht ohne Emphase aufgestellte Behauptung mag zwar ähnlich wie die Mauerinschrift als eine Aufforderung an den Künstler gesehen werden, einen verlorenen Posten wieder einzunehmen, geht aber über ein vom Humanismus inspiriertes spätromantisches Kanzelrednertum nicht hinaus.

Was den Surrealismus von heute aus gesehen interessant macht, das ist wahrscheinlich weniger der Trend zu revolutionärer Aktion und die Hinwendung später zum Marxismus, sondern einerseits die Formulierung eines veränderten Verhältnisses zur Wirklichkeit, das sich in der Naturwissenschaft längst anbahnte, anderseits das Erschließen

• Erich von Kahler, der bekannte Geschichtsphilosoph, starb dieser Tage 85jährig in Princeton.

• Wolfgang Bauer schreibt an einem neuen Stück mit dem Titel „Massaker im Hotel Sacher“.

• Das Grillparzer-Forum auf Burg Forchtenstein wurde mit Professor Joachim Müllers Vortrag zum Thema „Figur und Aktion im Sappho-Dräma“ eröffnet; der Präsident des Forums, Professor Heinz Kindermann, erhielt den vom Unterrichtsminister vergebenen Grillparzer-Ring 1970.von Quellen, ohne die es später überhaupt keine sprachliche Weiterentwicklung gegeben hätte. Marcuses Formulierung beweist aber einmal mehr, daß dort, wo es mit ideologischem Zündeln versucht wird, der Griff in die Mottenkiste nahezu unausbleiblich ist. Liest man aber in Louis Aragons früh entstandenem Werk (Le paysan de Paris, Pariser Landleben, im Verlag Rogner Bernhard) Sätze wie „Das Nützlichkeitsprinzip wird allen, die diesem höheren Laster frönen, fremd werden. Der Geist wird bei ihnen langsam außer Gebrauch kommen. Die jungen Leute werden diesem ernsten und nutzlosen Spiel völlig verfallen. Es wird ihr Leben ändern. Die Universitäten werden leer sein. Man wird die Laboratorien schließen“, dann scheint der Schulterschluß zwischen Mottenkiste und Gegenwart beängstigend nahe und Elisabeth Lenks Definition des Surrealismus als „systematische Verwilderung der Kultur“ treffend.

Zweifellos, was vom Surrealismus ausgeht, hat seine Spuren nicht nur in der Kunst, sondern im gesamten gesellschaftlichen Leben hinterlassen. Die von der Kunst geschaffene neue Wirklichkeit wird nun in der Wohlstandsgesellschaft der Nachkriegsjahre konsumiert. Hier ist, selbst unter Beschwörung der Mannen Bretons und Eluards, nichts mehr zu holen. Daß sich der Protest heute, wenn überhaupt, und mit sehr vielen Fragezeichen ganz anders abspielen muß, beweisen die Werke jüngerer Autoren oder vielleicht deren Schweigen.

Aragon schrieb seinen Paysan de Paris, bevor er sich dem Kommunismus zuwandte, und was daran heute noch interessieren kann, ist neben der historischen Reminiszenz an die glasüberdachten Passagen von Paris, deren vom Boulevard Haussmann verschlungene Passage de l'Opera in Aragons bildgesättigter Prosa detailliert bis ins kleinste wiederersteht, der Versuch, poetische Prosa mit einem der veränderten Wirklichkeit angepaßten Kunstempfinden, das sich einmal in abstrakter Theorie, ein anderes Mal in verschlungenen allegorischen Deutungen äußert, zu vereinen.

Für Aragons flutende, bildbetäubte Prosa, die Logik und Vernunft ausklammert, gilt Marcuses Postulat „Phantasie an die Macht“ aber in ganz anderem Sinn. Es ist nicht die produktive Phantasie, die neue Wirklichkeiten setzt, sondern die Phantasie, die Wirklichkeiten negiert, um Mythen zu schaffen, sich auf dem Umweg der surrealen Wahrnehmung in das mythische Lebensgefühl archaischer Kulturen einzuschleichen. Ob man es damit, abgesehen von einer sinnlich bestechenden Prosa, die noch immer zu faszinieren vermag, mit einem der letzten Versuche, innerhalb einer Urbanen rationalisierten Umwelt das Phantastische zu retten und damit die Poesie als eine Ausformung des Phantastischen („Unsere Natur ist die Stadt. Die Bauern, ehedem Schöpfer des Mythos, haben ihre Felder nach Paris verlegt“) zu tun hat, bleibe dahingestellt. Die Selbsterhaltung dieser Art ist in Aragons Buch oft dem Verdruß und der Selbstzerstörung nahe. Pan ist nur schwer in Paris zu finden.

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