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Schattenbilder aus Westdeutschland

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Frankfurt am Main, Ende Februar 1947 Wunschtraum eines jeden dritten Deutschen ist, auszuwandern. Vor allem* die Schwaben, von altersher Auswanderer, blicken über den Ozean. Die Hüchtlings-kommissare Nordwürttembergs und Nordbadens forderten „die Inangriffnahme einer planvollen Absiedlung von Ausgewiesenen in überseeischen Ländern“. Amtlich wird die Frage geprüft. Inzwischen liest man Anzeigen wie: „Auswanderer nach Brasilien! Sie lernen leicht und bequem portugiesisch durch Fernkurs.“ Oder: „Wer nimmt Witwe mit nach Amerika zur Führung des Haushalts.“

Die schwäbischen Textilfabriken können genau wie die bayrischen von den USA gelieferte Baumwolle nur einen Teil verarbeiten. Grund, Mangel an Arbeitskräften. Es fehlen zweitausend Mädchen und junge Frauen in den Baumwollfabriken und den Industrien von Hof. Ihr Wochenlohn beträgt 20 Mark. Ein Päckchen amerikanische Zigaretten kostet auf dem Schwarzen Markt 80 Mark.

Im gleichen Hof, in dem Siemens 1000 Arbeiter sucht, kann das Arbeitsamt 4000 beschäftigungslosen kaufmännischen Angestellten keine Arbeit zuweisen. Die Arbeitsämter raten zur Umschulung für das Baugewerbe. Denn drei Millionen arbeitslose Kaufleute gebe es bereits in Deutschland. Und täglich würden neue entlassen. Diese Arbeitslosigkeit werde Jahrzehnte dauern. Aber das Baugewerbe suche fünf Millionen Arbeitskräfte.

Die Zahl der Geburten in Nordwürttemberg-Baden betrug im ersten Halbjahr 1946 104.000 gegenüber 21 2.0 00 in der gleichen Zeit des Jahre 1 9 3 8. Der Leiter des Roten Kreuzes erklärte, daß in der Stuttgarter Frauenklinik von 15 eingelieferten Frauen nur eine zur Entbindung komme. Die Altersgrenze der Geschlechtskranken sei sdior unter vierzehn Jahre gegangen. In Stuttgart sprächen die Gesundheitsbehörden von 20.000 Tuberkulosekranken unter den 400.000 Einwohnern.

Infolge des katastrophalen Kohlenmangels wird so viel Holz geschlagen, daß die „Main-Post“ klagt, es würde hundert Jahre dauern, bis wieder schlagreifes Holz nachgewachsen sei. Das bedeute Wasserarmut und Veränderung der klimatischen Verhältnisse.

Brennholzaktionen und Holzexport nach England machen es unmöglich, den immensen Nutzholzhunger zu befriedigen. Als Beispiel für mangelhafte Zuteilung erwähnte der Eßlinger Oberbürgermeister, von 58 zugeteilten Festmeter Nutzholz habe man in seiner Stadt allein 57 für Särgegebraucht.

Die Kinder in der USA-Zone werden kleiner. Eine Messung in den Volksschulen Sdiweinfurts ergab, daß die Zwölfjährigen nur mehr 114 Zentimeter im Durchschnitt groß sind gegenüber 156 Zentimeter im Jahre 1941. Sie sind gut 5 Kilogramm leichter. Die Elfjährigen sind 14 Zentimeter kleiner und 5 Kilogramm leichter.

In zwei Mannheimer Luftschutzbunkern wurde eine Champignonzucht eingerichtet. Andere der 41 Bunker — Mannheim war die bunkerreichste Stadt Deutschlands — beherbergen Kriegsgefangene deutsche Zivilangestellte; natürlich tehlr es auch nicht an einem Bunkerhotel, jenem kärglichen Hotelersatz, auf den der Reisende in Frankfurt, Stuttgart und mancher anderen Großstadt angewiesen ist, wenn er bei Freunden nicht ein Bett findet.

1 Ein Mannheimer Gewerkschaftssekretär berichtet über die Verfassungskampagne in Nordbaden: „Dutzende Male klingelt täglich bei mir das Telephon und man fragt mich: Was sollen wir morgen in unserer Betriebsküche kochen? Doch wegen der Verfassung hat bei mir noch niemand angefrag t.“ Eine Stuttgarter Zeitung meint, man ersehe daraus, daß in der Skala der Bedürfnisse die Verfassung anscheinend nicht oben stehe.

In vielen Büros werden bei Beendigung der Arbeitszeit die elektrischen Birnen ausgeschraubt und eingeschlossen. Überall fehlt es an Birnen, da die Produktion im Verhältnis zum Bedarf gleich null ist und aus Berlin, dem einstigen Monopolerzeuger von Glühbjrnen in Deutschland, Ware nicht zu erhalten ist. Auch der Schwarze Markt versagt, sb daß die Verdunkelung vieler Wohnungen begonnen hat und eine neue Qual in den schwarzen Alltag eindringt.

Zwanzig Mark verdient eine Textilarbeiterin in der Woche. Sammelt sie Bucheckern, die in einer Fülle wie sie nicht mehr seit 60 Jahren in Süddeutschland von den Buchen regneten und wochenlang Völkerwanderungen in die Wälder verursachten, dann konnte sie es auf 300 Mark täglich bringen. Allerdings mußte sie die vier Kilogramm Bucheckern, auf die sie es im Tage bringen konnte, in Württemberg umtauschen. Dort erzwang die bodenständige Demokratie von der Regierung die Aufhebung jener Verordnung, wonach die Bucheckern bewirtschaftet waren, und der Sammler nur 150 Gramm öl je Kilogramm an Stelle der wirklichen 220 Gramm erhalten sollte. Nur als Randbemerkung zur planlosen Planwirtschaft: In Bayern erhielt der Sammler 80 Gramm öl je Kilogramm Bucheckern, in Hessen 150 Gramm und im freien Württemberg von den Ölmühlen etwa 220 Gramm. Vier Kilogramm Buchein erbringen ein Liter öl und der Schwarzmarktpreis in Frankfurt beträgt dafür 300 Mark.

Samstagnachmittag in München — eine zum Bersten volle Straßenbahn bleibt mitten auf der Strecke stehen. Die verwunderten Fahrgäste sehen den Wagenführer aus dem Wagen springen, ein paar Schritte zurücklaufen und freudestrahlend einen Zigarettenstummel einstecken. Dann konnte die Fahrt weitergehen.

110.000 Zigaretten wurden im September vom Minister für die Entnazifizierung Bayerns als Sonderzuteilung an die Mitglieder der Spruchkammern verteilt — als Ausgleich für die täglichen Anfeindungen, wie der Minister mitteilte. Verblüffend, daß alle Zeitungen Bayerns dies in Ordnung fanden, obwohl die Druckerschwärze der bayrischen Verfassung noch nicht trocken ist, in der allen Bayern gleich Rechte zugesichert werden.

Die Angestellten der Frankfurter Krankenkasse erhielten still und leise Lebensmittelsonderzuteilungen, Bayerns Sonderminister Dr. Pfeiffer gab bekannt, daß er sich dafür eingesetzt hat, den Mitgliedern der Spruchkammern Schwerarbeiterzulage zu erteilen. Solche Zuteilungen den Ärzten der USA-Zone zu gewähren, ist zwar schon vor Monaten geplant gewesen, ihnen wie allen geistigen Arbeitern dann aber verweigert worden. Lediglich der Chef des württembergisdien Ernährungswesens hat es bisher mit dem Staatsanwalt zu tun bekommen, weil er seinen Angestellten vergangene Weihnachten Lebensmittelsonderzuteilungen gab. Der Staatsanwalt meinte, dies ei widerrechtlich und gehe auf Kosten der Allgemeinheit. Aber Württembergs Regierung deckte trotz allem den Sonderzuteiler.

Wer in den Bahnhof von Bad Kissingen einfährt, wird dort von einem quer über die Geleise aufgehängten Schild begrüßt, auf dem in englischer Sprache versichert wird: „Geschlechtskrankheiten sind sohlechte Schlafgenossen.“

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