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Seelsorge im modernen Dorf

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KIRCHE IM GEBIRGE UND ANDERSWO. Von Bischof Dr. Paul Rusch. Tyrolia-Verlag, Innsbruck. 259 Seiten. Preis 78 S

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KIRCHE IM GEBIRGE UND ANDERSWO. Von Bischof Dr. Paul Rusch. Tyrolia-Verlag, Innsbruck. 259 Seiten. Preis 78 S

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Ein ganz ungewöhnliches Buch. Ungewöhnlich vor allem, weil hier ein Bischof seinem Klerus und dessen Laienhelfern nicht nur ex auctoritate Weisungen gibt, sondern solche mit einer gründlichen und erfahrungsreichen Diagnose der seelsorglichen Lage in seinem Kirchensprengel und „anderswo“ untermauert. Die Situationszeichnung wurzelt in einem weitausholenden Versuch, die Ursachen zu finden, die zur gegenwärtigen Lage geführt haben.

Das ungestörte Tiroler Dorf von einst hatte zwei Gesichter: eines, das spürbar aus dem Glauben und der Nächstenliebe lebte, und das andere, das auch damals schon nur noch die kirchlichen Pflichten „praktizierte“. Die heutige weltoffene Dorfschaft aber, von der. Technik und vom Motor bestimmt, sei einerseits auf dem Weg, von der Eigenbedarfswirtschaft weg zur zweckbestimmten Farm; und ist anderseits, wenn auch nicht gerade auf die Kolchose, so doch auf eine genossenschaftliche Sammlung und Deckung aller aus. Der Einbruch der „Welt“ (Zeitung, Kino, Rundfunk, Verkehr) reißt das alte Dorf aus seiner Abgeschlossenheit und kurbelt es in das rasende Tempo-Tempo der Gegenwart ein. Die Dorfseele von ehedem schwindet, verschwindet, wenn auch hier die Entwicklung der Stadtbevölkerung, wie Bischof Rusch sie sieht und zeichnet, zum liberalisierten Kollektivmassenmenschen noch nicht so weit gediehen ist. Es muß in Tirol die Arbeiterschaft noch stark vom Begriff des Proleten bestimmt sein, der hinter dem kommunistischen Manifest von Anno 1848 steht. Der Arbeiter ist sonst und heute weder dem Marktgesetz überantwortet (Kollektivvertrag) noch in Krisenzeiten schutzlos (Arbeits- losigkeits-, Krankheits-, Unfall-, Altersversicherung) noch sozial schutzlos noch ohne - politische Stimme noch ohne die Möglichkeit des Aufstiegs (innerhalb seines Arbeitsplatzes) und hat Errungenschaften, um die ihn jeder Bauer oder Bürger beneiden könnte, wie die 45- oder 40-Stunden-Woche. Er ist gegen wärtig daran, ein konservativer Stand zu werden, der seine bedeutende Stellung zu behaupten und politisch auszubauen bestrebt ist. Seine Führer sind (in der Sprache von Marx) richtige Bourgeois mit Ministergehältern, mit Wagen und Chauffeur. — Die Säkularisierung des Daseins ist, im Ausmaß und der Farbigkeit nach verschieden, in alle Stände eingedrungen.

Der christliche Aufbruch gegen diese wird gezeichnet in den Gegensatzpaaren: das Mysterium gegen den Rationalismus; Gemeinschaft gegen Individualismus, Kollektivismus und Liberalismus; die Corpus-mysticum-Theologie und liturgische Vertiefung gegen die von der Apologetik bestimmte bare Abwehrhaltung. Zur Neubesinnung der Theologie (Lebens-, Verkündigungs-, Erfahrungstheologie und anderen) werden alle theologischen Ansätze registriert und eine Theologie verlangt, die wieder eine geistige Macht bedeutet.

Unter diesen Voraussetzungen ruft Bischof Rusch nach einer zpitgerechten Pastoration. Ihr Ziel ist:

der substantielle Christ, der miles Christi, die aus- strahlende, weil aus dem Mysterium lebende Gemeinschaft der wahrhaft Gläubigen. Die Pfarre als er obernde Aktionsgemeinschaft wird von ihrer Wesensmitte her in ihrem Aufbau und ihrem Auftrag und ihren Methoden Umrissen. Alles das — es ist das köstlichste an diesem Buch — mit einer befreienden, weil nüchternen Kenntnis der Sachlage. Die Stadt und ihr liberalisierter Kollektivmensch wird genau untersucht, nach welchen Rezeptionsgesetzen er lebt und denkt; der Industriepfarre steckt er als Ziel: die Sozialgemeinschaft.. Alle diese Formen haben als missionarisch einsatzfähige Gemeinschaften nach klarer Jahresplanung zu arbeiten. Das Vorbild erstellt Frankreich (Michoneau). Auch das Dekanat ist für Bischof Rusch nicht eine Organisationsinstanz, sondern für seine Seelsorger eine Leistungs einheit, alle Dekanate wieder sind auf den Ordinarius hin ausgerichtet, der iure divino das dreifache Amt versieht. „Das dreifache Amt ist von oben her bestimmt, inhaltlich, wird aber von unten her in der Art und Weise, dem Wie, mitbestimmt, was das Lehramt betrifft, in der ultima concretio (letzte Konkretisierung), auch inhaltlich“ (S. 175).

Schon in der Zeichnung der Lage ist das Werk von einer unbestechlichen Nüchternheit, Offenheit und Kühnheit. Es kennt keine Schönfärberei und vermeidet jede tröstliche Selbsttäuschung. Das kommt dem letzten Kapitel „Begegnung" sehr zugute. „Das Christliche wird vom Modernen absorbiert. Das Christliche hat keine Strahlkraft mehr.“ Klöster, früher Ausstrahlungszentren, heute Isolierungspunkte. Daran hat die katholische Presse nicht viel geändert, und der Bischof fragt, ob die bisherige Katholische Aktion es hat. „Selbst Predigtphänomene von früher säkularer Bedeutung sind in wenigen Wochen ausgelöscht“ (S. 219). Der Geist der Zeit „wendet sich der Erde zu; er vergißt das Religiöse“ (S. 222), und das in einem atemraubenden Tempo. Das gegenwärtige Lebensgefühl fällt auf alles herein, was sich als „neu", „jung", als dynamisch, als fort schrittlich vorstellt. , Technik und Motor und der Götze Lebensstandard beherrschen den Planeten, und darin sind sich Ost und West einig. Der Bischof stellt ein „Zurückbleiben von Theologie und spirituellem Lebensraum gegenüber Naturwissenschaft, Technik und äußerem Lärm“ fest (S. 224). Fällig wäre eine theologische Anthropologie, „ebenso die Anwendung ihrer Sittenlehre auf die Gegenwart und ihren Weltraum“ (S. 224).

Wo sind in dieser Welt die Ansätze zu einer Besinnung und Neubegegnung mit dem Metaphysischen? Es gibt sie spürbar. Die Auflösung geht so weit, daß eine Ordnung vom Metaphysischen her notwendig wird. Die Barbarisierung, die durch die Naturwissenschaft und Technik möglich und immer gesteigert wird, bedarf einer Bändigung vom Menschlichen her; Fortschritt kann zum schlimmsten Rückschritt und zur Vernichtung aller führen. Der Größe des technischen Fortschritts entspricht in keiner Weise die Verantwortung. Sie nimmt „ständig ab. Sie verlangt eine „maßrechte Mündigkeit“, sonst geht der Fortschritt motorisiert in den totalen Untergang. Die Besten packt das Grauen; hinter aller Lebensgier zittert heimlich die Angst.

Das alles ruft nach sehr konkreten Aufgaben der Theologie und der Pastoration. „In der hochherzigen Bereitschaft des Christen, dessen Grundtugend die Hoffnung ist, wollen wir dem Anruf entsprechen“ (S. 259).

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