Ungeschrieben, aber doch zu lesen

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Bücher über Bücher, die nie geschrieben wurden, können sehr interessant sein. Das beweist die Lektüre von George Steiners Essays.

Nächstes Jahr wird der Kulturkritiker, emeritierte Universitätsprofessor, weltweit Vortragende und Buchautor George Steiner 80 Jahre alt. Sein neuestes Buch heißt "Meine ungeschriebenen Bücher" und besteht aus sieben Essays von jeweils 40 Seiten, in denen er anschaulich schildert, worüber er gern ausführlicher geschrieben hätte und warum er es nicht getan hat: Das Alter war in keinem Fall ein Hinderungsgrund.

Sprachhindernisse

Steiner beginnt mit einem Porträt des Sinologen und eingefleischten Kommunisten Joseph Needham, der mit ungeheurer Gelehrsamkeit in 94 Lebensjahren doch ein gigantisches wissenschaftliches Unterfangen nicht beenden konnte: Eine Darstellung der chinesischen Wissenschaft und Kultur im Längsschnitt. Steiner bewunderte Needham, doch stimmte die Chemie zwischen den beiden nicht. Außerdem kann Steiner nicht Chinesisch.

Ein Sprachhindernis ließ ihn auch Abstand nehmen von seinem Wunsch, in einem Buch der Frage nachzugehen, was denn Juden zu Juden macht. Der Jude Steiner ist des Hebräischen nicht mächtig. Interessant ist seine Begründung, warum er nie Zionist geworden ist: "Israel reduziert Juden auf die gewöhnliche Verfassung des nationalistischen Menschen. Es hat jene moralische Einzigartigkeit, jene Aristokratie der Gewaltlosigkeit gegenüber anderen herabgesetzt, die der tragische Ruhm des Juden waren."

Je älter George Steiner wird, desto ungehemmter packt er Persönliches aus. Ein Buch über den Dichter, Astrologen und Zeitgenossen Dantes Cecco d'Ascoli wurde nicht geschrieben, weil Steiner erkannte: Der Neid, der den geistig Kleineren gegenüber Dante wohl zerfressen haben muss, ist auch ihm nicht unbekannt. Das Thema "ging mir zu tief unter die Haut".

Viersprachig lieben

In Großbritannien zerpflückten die Kritiker ein Kapitel in Steiners neuem Buch mit besonderem Genuss: "Die Zungen des Eros" enthüllen Steiners viersprachige Schlafzimmer-Erfahrungen. Für Steiner gilt Casanovas Behauptung: "Ohne Worte wird das Vergnügen der Liebe um mindestens zwei Drittel verringert." Er hatte das Privileg, "in vier Sprachen Liebe zu sprechen und zu machen". Fazit: "Machen" tun alle Menschen das Gleiche, der Unterschied liege im Reden dabei. Nachdem er gerade so diskret war, dass ihn keine der mit Anfangsbuchstaben genannten Spielgenossinnen verklagen kann, bricht er seine Ausführungen ab mit den Worten: "Die Indiskretion muss ihre Grenzen haben." Dieser Einsicht fehlt eine wichtigere: Der gute Geschmack gebietet, derlei Histörchen entweder in einen saftigen Roman zu verpacken oder zu verschweigen. Sie mit linguistischem Interesse zu verbrämen, ist unglaubwürdig.

Klug und unpopulär

Glaubwürdig, kompetent und hellsichtig erweist er sich in seinen Gedanken zu Bildungsfragen. Viersprachig (Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch) hat er in drei verschiedenen Bildungssystemen gelehrt: In Großbritannien, der Schweiz und in den USA. Als ihn eine internationale Organisation einlädt, europäische und amerikanische Bildungseinrichtungen zu vergleichen, kapituliert er: Statistiken sind seine Sache nicht, doch hat er Kluges und Unpopuläres über die Vergeblichkeit von "Breitenbildung" zu sagen: "Der Brillanz wird nicht gestattet, einem robusten Spießbürgertum in die Quere zu kommen."

In die Ecke gedrängten Geisteswissenschaftern will er mit seinem Bild vom Zeitpfeil ein Argument in die Hand geben: Während sich Naturwissenschaften und Technik vorwärtsbewegen, streben die Geisteswissenschaften danach, die Erinnerung an vergangene Dinge zu erneutem Leben zu erwecken: Wir brauchen beides.

Intellektuelle Obsession

Bekenntnishaft ist auch der letzte Essay: Immer wieder sei er gefragt worden, wo er eigentlich politisch stehe. Steiner gehörte nie einer politischen Partei an und er hat sein ganzes Leben nie von seinem Wahlrecht Gebrauch gemacht: "Meine Politik ist die der Privatheit und der intellektuellen Obsession." Als Jude fühlte er sich oft unwillkommen; warum sollte sich ein Gast in die Familienangelegenheiten anderer einmischen?

Am Ende seines dichten Buches berührt er den wohl intimsten geistigen Bereich des Menschen, den der Religion. Seiner Überzeugung nach ist Gott eine menschliche Erfindung: "Strenggenommen ist alle Theologie, und sei sie noch so profund und eloquent, Wortgeklingel."

Man kann sich an Steiners Urteilen reiben. Man kann sich über seinen erhabenen, pathetischen Stil lustig machen. Aber eines kann man nicht - ihm die Lust am Denken absprechen. Sie ist ansteckend.

MEINE UNGESCHRIEBENEN BÜCHER

Von George Steiner

Aus dem Engl. von Martin Pfeiffer

Carl Hanser Verlag, München 2007

263 Seiten, brosch., € 21,50

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