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VON NEUEN BÜCHERN

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Von Max Picard. I. Band. Verlag Eugen Rentsch, Zürich. 240 Selten

Be ist eine augustinische Erfahrung, daß in der Geschichtsweit Babylon und Jerusalem, das dem Zerstörer unterworfene und das Unzerstörbare, ineinander gefügt 6ind: die Entwirrung geschieht erst am Ende. Der Gleichzeitigkeit des Geordneten und de6 Zerfalls gilt das neue Buch Max Picards; es sind Aufzeichnungen von einer Reise durch ober- und mittelitalienische Städte. Doch ist nichts weniger beabsichtigt als eine Reisebeschreibung; der Reisende greift einzig die Züge heraus, die er bis zur symbolischen Aussage vom Wesen der Zeit und der Menschen zu steigern vermag. Das Thema des Buches ist ateo die Physiognomie der Zeit; deren Deutung beginnt mit dem Menschen- gesidit, aber sie umfaßt auch Architektur, Landschaft, Geschichte, um dann zum Menschengesicht zurückzukehren, das durchaus das Letzte sagt von Substanz und Leere, Form und Auflösung. Die Anmut der Farben, des Ausdrucks wollen den Ernst nicht verschleiern; sie erhöhen vielmehr seine Überzeugungskraft: Picard liebt die Welt, da er sie auf das furchtbarste gefährdet sieht, nur um so inniger; er späht die verhaltensten Reize aus, die sie verteidigen können. Und doch überkommt ihn die Einsicht, daß auch die vollkommenen, noch unversehrten Städte Italien im Zeitalter der Zeretörungstechnik .virtuell“ schon verfallen 6ind; wie das zerfallene, reduzierte Gesicht heute nicht mehr .dekadent, herabgefallen, weggefallen ist, sondern .primär , so hat auch die Trümmer- stadt die Vormacht über die verschonte Stadt: jene ist schon in dieser beschlossen. .Seit 1914 scheint es keine Geschichtlichkeit mehr zu gebenGeschichte wird nur noch vorgetäuscht, das heißt .geschichtliches Rohmaterial wird erledigt, abgefertigt, verbraucht, nicht mehr geformt und nicht mehr bewältigt. Die Zerstörung ist so gewaltig, daß sie nicht mehr als Einbruch verstanden werden kann; sie ist im zweiten Weltkrieg .etwas Absolutes geworden, ja, sie hat 6ich als .Welt konstituiert, gewissermaßen als Ge’genordnung; Krankheit ist eine „Existenzform“ geworden in dieser Welt der Vernichtung, die ihre eigenen, dem Menschen freilich noch kaum bekannten Gesetze befolgt. Selbst die Kraft, das Böse zu bilden, ins Bild zu fassen, ist geschwunden; an dieser Stelle scheint keine Hoffnung mehr.

Und doch ist die Welt der Bilder da; sie spiegelt sich schon in den Gesichtern, etwa der Menschen auf den Straßen Perugias: „jeder Affekt hat da6 Objekt, zu dem er gehört, er ist nicht in sich selbst, sondern nach vorne zum ändern hin gebunden, hier ist nichts zu psychoanaly6ieren . Denn „der Italiener i6t immer bei dem ändern ganz, und ganz auch bei 6ich“. Hier wird deutlich, warum Picard die Psychoanalyse ablehnt: „Man muß den Abgrund an seinem Ort lassen, unten.’ Denn dieser ebenso scharfsichtige wie sensible Diagnostiker der Zeit ist Arzt und als solcher der Meinung, daß es vielleicht wichtiger sei, den Kranken zu lehren, wie er mit seiner Krankheit leben könne, als ihn durch gefährliche Eingriffe heilen zu wollen; diese kluge Bescheidung der Liebe macht ilA zum Arzt der Zeit. In den Bildern des Sein6, der Ordnung ist die beschwichtigende heilende Kraft; die Natur weiß davon. Denn „das Bild der Natur ist ohne Mord . Und dies eben müssen wir lernen: ohne Ab6chwächung unseres Wissens, unserer Erfahrungen „das Bild über dem Morden zu bewahren; das Bild aber ist das eigentlich Seiende, Ausdruck unverrückbarer Ordnung. .Für alles, was dem Menschen innerlich begegnet, muß eine Entsprechung vorhanden 6ein in der objektiven Welt.“ Diese ist dem unzeretörten Menschen npeh gegeben; von Italienerinnen, die Picard in einem Hotel in Chinciano beobachtet, notiert er: „Es war wunderbar zu merken, daß es auch dies gab: das Wesen der Dinge zu kennen, ohne daß man sich darum bemühte, e zu erfahren, indem die Dinge selber sich um einen bemühen.“ Und solche Begegnungen sind so stark, so bestimmend, daß der Reisende schließen kann mit den Worten: „Wir sind mehr gerettet, als wir wissen.“

Damit ist nur der Versuch gemacht, Aussage und Haltung anzudeuten. Der hohe Wert des Buches beruht darin, daß es in völlig unsystematischer Form, beschwingt, immer vom Sichtbareq bewegt und sich in der Nähe des Sichtbaren haltend, ein Gesamtbild unserer Doppelwelt gibt: der Welt der Zerstörung und der unzerstörbaren. E6 werden immer beide da 6ein; denn Ihre Gleichzeitigkeit ist der Grund geschichtlicher Existenz; wenn aber die Gewichte mit fast unwiderstehlicher Wucht zur Zerstörung ziehen, tun uns Menschen not wie Max Picard. Von Ikonen wird erzählt, daß sie vor Kranke gebracht wurden, 6ie zu heilen. Hier ist das Bild der Wahrheit; es kann nicht heilen, was bis in den Grund zerstört ist, aber es kann trösten und ee wird diejenigen im Besten ihres Selbst bestätigen, die der Zerstörung noch widerstehn.

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