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Warum icli über Frankreich schreibe

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Der berühmte deutsche Publizist und Journalist Friedrich Sieburg gilt als einer der besten Kenner Frankreichs. Das folgende Kapitel ist seinem Buch „Gott in Frankreich“ entnommen. Prof. Dr. Friedrich Sieburg, der gegenwärtig in Stuttgart lebt, spricht am 20. und 21. Jänner in Wien.

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Der berühmte deutsche Publizist und Journalist Friedrich Sieburg gilt als einer der besten Kenner Frankreichs. Das folgende Kapitel ist seinem Buch „Gott in Frankreich“ entnommen. Prof. Dr. Friedrich Sieburg, der gegenwärtig in Stuttgart lebt, spricht am 20. und 21. Jänner in Wien.

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weil ich dem Fortschriii der Ideen vor der Idee,des Fortschritts den Vorzug gebe,

weil ich noch einmal den Atem anhalten und verweilen möchte, ehe die Welle mich der alten Welt entreifjf und jenem Schicksal zuschleudert, das mich aus einem Geniefjer in einen Konsumenten verwandelt,

weil es mir schwerfällt, in der Entwicklung von der Schlamperei zur Hygiene das menschliche Glück zu erblicken,

weil ich nur dann Zeit gewinnen möchte, wenn man die also gewonnene Zeit zu meiner freien Verfügung läfjl, wenn man mir erlaubt, das durch Hetze erworbene Kapital an Stunden in aller Ruhe aufzuzehren, also am liebsten auf einer Wiese durch Nichtstun,

weil ich schwach genug bin, in einem altmodischen und unordentlichen Paradies lieber umherzustreifen als in einer blitzblanken und trostlosen Musterwelt,

weil ich die Träume verewigen möchte, mit der ich von einem eigensinnigen und überholten Frankreich Abschied nehme, ehe ich mich als tätiges Mitglied in die europäische “ukunffsgemeinschaft einschreiben lasse,

weil ich meinen Mitmenschen etwas von jenem Schmerze mitfeilen möchte, den ich empfinde, wenn ich von der Ewigkeif zur Tagesordnung übergehen mufj,

weil ich einen hemmungslosen Glauben an die Zukunft für eine Gefahr halte, solange er nicht von der Liebe für eine verlorene, aber unverlierbare Sache, nämlich die Vergangenheit, gedämpft ist,

weil in Frankreich jeder Mensch eine handgearbeifefe Seele in sich trägt, die häufig von zweifelhafter Qualität ist, während anderswo selbst diö edelsten Empfindungen Gefahr laufen, eines Tages in Serien hergestellt zu werden,

weil in Frankreich der Wagen der Zeit aufgerissene Polster hat, aus denen das Seegras herausschaut, und mit einem franziskanischen Eselchen bespannt ist, während er anderswo auf Schienen läuft, elektrisch betrieben wird und mit Inschriften „Nicht ausspucken“ verziert ist,

weil es noch ein Land in der Weif geben mufj, das einen kompakten Widerstand, ein solides Bollwerk gegen die Vervollkommnung der Menschheit bildet, dergestalt, dafj die private Glückseligkeif auf Schritt und Trift über die der Allgemeinheit triumphiert,

weil ich allen Ländern aufjer Frankreich immer wieder Gelegenheit geben möchte, auf ihre Ordnung, Sauberkeit, Disziplin und Organisation sfolz zu sein und sich dadurch über den traurigen Mangel an falschen Telephonverbindungen, verbummelten Postsendungen und unzuverlässigen Handwerkern zu frästen,

weil ich nicht zu entscheiden wage, was besser ist: ein vollkommenes System der sozialen Fürsorge oder ein unerschöpflicher Vorrat an Weifjbrot und Rotwein,

weil in Frankreich zwar alle Statistiken falsch, aber alle Mafje richtig sind,

weil die Schuhmacher in Frankreich zwar unfähig sind, einen Riester richtig und in der gewünschten Zeit aufzusteppen, dafür aber während des ganzen Monats August ihren Laden zumachen und in die Sommerfrische gehen, um zu angeln,

weil die Franzosen zwar Ordnung im Kopf, aber Unordnung auf ihren Bahnhöfen haben, während anderswo alles wie am Schnürchen gehf,

weil man die sanffe Röte des Feierabends, dem Frankreich sich hingibf, auf der Stirn tragen muh, um unbeschadet durch den kalten Werkmorgen unserer Zeit zu gelangen,

weil über das Wesen des Paradieses noch keine Einigkeit bestehf, solange Frankreich behauptet, es komme auf die Summe des privaten Wohlbefindens an, und andere meinen, dafj man sich gefälligst nach der Idee der allgemeinen Wohlfahrt zu richten habe,

weil Frankreich, das meistens, aber auf eine versöhnliche Arf, unrecht hat, denen, die immer, aber auf eine unbequeme Art recht haben, die Gewifjheif biefef, dafj im Wettstreit der Nationen alle einmal drankommen,

Weil die grofjen Sfädte nur so lange menschenwürdig sind, wie ihre Bewohner sich entschlossen zeigen, Kleinstädter zu bleiben und den Rhythmus des Lebens als einen ruhesförenden Lärm zu ignorieren,

weil die Maschine zur Beschaffung von freier Zeit für Menschen dienen sollte, ansfatl eine göttliche Verehrung zu geniehen,

weil sich die Frauenfrage in Frankreich zu einem grofjen Teil und aufs angenehmste dadurch lösen läfjt, dafj man den Frauen einen tüchtigen Vorraf zarfer Wäsche und taktvoll ausgewähller Hüfe zur Verfügung sfeilt oder wenigstens in ihnen mit teuflischen Mitfein die Hoffnung wachhält, dafj sie zu diesen Dingen eines Tages gelangen werden,

weil das französische Volk lieber Selbstmord verübt als arm wird und es anderen Völkern überläfjt, aus der Armut die Heilsbotschaft eines neuen Lebens zu formen,

weil es von Zeil zu Zeil erschrocken feststellt, dafj es zurückgeblieben ist, einen heftigen Anlauf nimmt, um das Versäumte einzuholen, unterwegs eine Menge Bekannte trifft, mit denen man plaudern mufj, um sich dann schließlich mit ergreifender Stimme darüber zu beklagen, dafj die anderen faktlos genug sind, so schnell zu rennen,

weil es jeden technischen und sozialen Fortschrift, der in anderen Ländern gemacht wird, als eine persönliche Beleidigung auffafjt; denn wie kommen die Leute dazu, an einem neuen Weltbild zu arbeiten, wo sie doch die Ideen der Grofjen Revolution noch nicht einmal vollständig in sich aufgenommen haben,

weil Frankreich sich bremsend an die Rockschöfje einer in voller Fahrt begriffenen Menschheit hängf, von der es nicht weih, ob sie in die Sterne oder in den Abgrund saust,

weil endlich Klarheit darüber geschaffen werden mufj, ob Gotf wirklich französischer Nationalität ist und ob wir uns ohne ihn einrichten müssen, wenn dies der Fall isf.

weil wir wegen Frankreichs Ungeneigtheit, sich von seiner Vergangenheit zu lösen, nicht auf unsere Zukunft verzichten können,

weil uns die Fragwürdigkeil Frankreichs als Nation, Staat und Gesellschaft nicht zu dem Glauben verleiten darf, wir müfjten dieses Land entbehren und ohne es unser Leben gestalten,

weil es gut, ja notwendig ist, eine Weile zu sinnen und sich das Herz beim Anblick des zurückbleibenden Frankreichs schwer werden zu lassen, ehe die Fahrt ins neue Zeitaller beginnt,

weil mit jeder Deutung Frankreichs die Hoffnung oder doch wenigstens das Verlangen in uns wächst, dies Land möge mit uns gemeinsam die Reise in die Zukunft antreten, — zu seinem Glücke und dem unseren.

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