Reifenwechsel im Regen

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Sowohl die Medienmacher als auch die Medienkonsumenten müssen erzogen werden.

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Sowohl die Medienmacher als auch die Medienkonsumenten müssen erzogen werden.

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Vor einiger Zeit brachte der "New Yorker" einen Cartoon, auf dem ein Vater, der im Regen einen Autoreifen wechselt, die Kinder, die vom Wagenfenster aus auf ihn einreden, zu überzeugen versucht: "Begreift doch, das ist echt! Das ist wirkliches Leben! Wir können hier nicht auf einen anderen Kanal weiter schalten!"

Was ist wirklich? Medien, die bis vor kurzem die These aufrechterhalten konnten, sie seien die Abbildner von Wirklichkeit, sind endgültig zu deren Erzeugern geworden. Die Grenzen zwischen realer und virtueller Wirklichkeit verschwimmen. Was nicht in den Medien vorkommt, ist nicht. Was aber in den Medien vorkommt, ist - auch wenn es in Wirklichkeit gar nicht existiert.

Die wachsende Komplexität der Gesellschaft bringt eine immer größer werdende Freiheit der Auswahl mit sich. Wir können heute unter Tausenden Waren und Dienstleistungen, Berufen, Informationsquellen, Zeitungen, Radio- und TV-Kanälen auswählen.

Immer mehr Menschen werden des Entscheidens müde. Die wachsende Zahl derer, die gern Entscheidungskompetenz an Vordenker und Anschaffer abtreten würden, beunruhigt. Der Pastoraltheologe Paul M. Zulehner ortet Entscheidungsschwäche vor allem bei ichschwachen Personen und ruft zur Erziehung zu "Freiheitskünstlern" auf, die mit der Vielzahl von Optionen verantwortungsvoll umgehen können.

Wer aber erzieht zu Freiheitskünstlern? Tun es Eltern? Erziehen Schulen, auch hohe Schulen, zu Freiheitskünstlern, die selbst mit angebotenen neuen Freiheitsräumen, etwa in der Budgetverwaltung, so ungern umgehen?

Wir wollen nicht ungerecht sein: Sie alle tun etwas. Aber das noch zuwenig: Auch auf die Medien können wir bei der Erziehung der Medienkonsumenten zu nochmaliger Auswahlfähigkeit nicht verzichten. Mit Recht weisen Medien die Anforderung, Reserve-Schulmeister zu spielen, zurück. Aber wenn ihre große Verantwortung in der Reduktion der eingehenden Nachrichten auf jene, die weitergegeben werden, besteht, dann müssen Medien durch Auswahl und Aufbereitung von Nachrichten einen Erziehungsauftrag erfüllen.

Das heißt konkret: Sie dürfen selbst dort, wo sie virtuelle Wirklichkeit erzeugen, nicht reale Wirklichkeit verfälschen. Ich denke da etwa an die Berichterstattung im Balkankrieg, wo der Fernsehapparat auch zum Feldherrnhügel wurde und die Reporterkamera auch zum Werkzeug der Politik. Gleiches gilt für die häufiger vorkommenden Versuche in Printmedien, mit technisch immer großartigeren Bildmontagen Meinungen zu manipulieren.

Das ist kein Plädoyer gegen Unterhaltungselemente in den Medien. Daß dergleichen unvermeidlich und bisweilen sogar wünschenswert ist, hat lange vor Bruno Kreisky schon Georges Bernanos gewußt, als er noch vor dem Zweiten Weltkrieg schrieb: "Der ärgste Feind der Zeitung ist die Langeweile." Und: "Eine Zeitung ohne Publikum ... ist ein Nichts." Das ist aber keine Verwechslung von Qualität mit Leser- oder Zusehermangel: Nicht alles, was nicht gelesen wird, ist gut. Aber ebenso gilt: Auch was viele lesen, könnte sich den Luxus des Qualitätsvollseins leisten.

Ein Merkmal gehobener journalistischer Qualität, aber dennoch unverzichtbar in jedem Medium ist die differenzierende Schilderung der Wirklichkeit. Journalismus ist die Kunst aktueller Vereinfachung, so der Politologe Anton Pelinka. Aber auch Vereinfachen hat seine Grenzen. So gut wie nie gibt es die nur Guten und die nur Bösen.

Daher hatten alle recht, die es ablehnten, die "guten Kosovo-Albaner" den "bösen Serben" gegenüberzustellen. Daher hatte Peter Handke recht, wenn er diese Vereinseitigung kritisierte, und daher hatten alle recht, die seine noch viel gröbere Vereinseitigung des Bildes unerträglich fanden.

Schon in der Schule müssen künftige Leser, Hörer und Seher zu verantwortlichem Mediengebrauch geführt werden. Wenn alle das Ihre tun, werden auch künftige Generationen von den Medien entschieden mehr Nutzen als Schaden beziehen - vorausgesetzt freilich, daß schon Väter und Mütter nicht müde werden, ihren Kindern klarzumachen, daß Kriegsnot, Liebeskummer, Schmerzenleiden und Sterben unverdrängbare Jetztzeit-Wirklichkeit sind - so wie ein Reifenwechsel im Regen.

Auszug aus dem Vortrag, den der Autor in Wien im Juli anläßlich "20 Jahre Kuratorium für Journalistenausbildung" hielt.

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