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Alles kann geschehen

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Ein Philosoph und Kulturkritiker hat den Menschen unserer Zeit als ein Geschöpf geschildert, dessen Inneres ein zusammenhangloses Durcheinander ist. Diese Zusammenhanglosigkeit wird durch das Fernsehen gefördert: Die Dinge werden so produziert, daß sie von vornherein nicht miteinander zusammenhängen. Deshalb wird eins nach dem anderen vergessen, schon ehe sie verschwunden sind.

Dort aber, wo alles zusammenhanglos ist, werden auch keine Vergleiche mehr angestellt, und ein Nichts oder ein Geringes oder ein Mittelmäßiges kann zum Absoluten erhoben werden. Diese Tendenz habe es zwar immer gegeben, meint der Philosoph, aber in einer Welt der Kontinuität sei das Große hinter dem Nichtigen und Geringen wenigstens noch gespürt worden, es sei nur verdeckt gewesen, während man heute nicht einmal mehr die Leere empfinde, von der das Große, Bedeutende vertrieben worden ist.

Dem Nichts entspricht der Schrei, nicht die Sprache, denn das Nichts hat keine Sprache. Und weil es ohne innere Kontinuität keine Dauer gibt, sondern nur den Augenblick, verschwindet auch die Reue und damit die Möglichkeit zur Besserung: „Man vergißt nicht durch das große Herz, sondern durch die große Leere, in der alles verschwindet."

Alles wird einander gleich in der Maschinerie des Augen-

blickshaften, alles wird gleich bedeutungslos, es gibt keine Unterschiede mehr, auch keinen Unterschied zwischen Gut und Böse. Und wo nur der Augenblick ist, da fehlt auch die Zeit für das organische und langsame Wachstum. Es gibt nur noch eine Zunahme der Quantität.

Der Mensch entsteht durch den Augenblick und nie ist in seinem Inneren etwas aus der Vergangenheit da: „Das ist der Grund, weshalb in der Gegenwart alles geschehen kann, der Mensch getraut sich an alles, er riskiert darum alles, das ist auch der Grund, weshalb er alles von vorne anfangen, alles erneuern will: er anerkennt nicht, daß schon etwas geschaffen ist."

Diese anscheinend so aktuelle Analyse aus dem Jahr 1946 stammt vom Schweizer Max Picard und ist nachzulesen in dem Buch „Hitler in uns selbst", , das Picard unter dem Eindruck des Nationalsozialismus geschrieben hat. Ich habe nur das Wort Radio durch Fernsehen ersetzt. Der Kulturkritiker Picard hat einen Menschen geschildert, der anfällig für das Totalitäre ist, der, im wahrsten Sinne des Wortes, keine Substanz mehr hat.

Vielleicht gebe es keine andere Prophetie als das Wissen um die Gegenwart, meint Reinhold Schneider: „Das Sehen dessen, was nicht gesehen wird, weil es nicht gesehen werden soll." Und das Totalitäre kann in den verschiedensten Erscheinungsbildern auftreten.

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