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Charisma geht vor Fachwissen

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Die plötzliche Neuordnung planwirtschaftlicher Systeme überläßt die Wirtschaft im Osten dem bisher unbekannten Gesetz von Angebot und Nachfrage. Westlichen Unternehmern steht der Zugang zu einem neuen freien Markt ohne staatliche Planvorgaben offen. Sie suchen Partner in den jeweiligen Ländern, die es ihnen ermöglichen, die Geschäftsmöglichkeiten zu nutzen. Doch diese Partner gibt es im Osten (noch) nicht.

Dieser Ansicht ist zumindest Othmar Hill, Geschäftsführer der Hill International Human Resour- ce Consulting Group. Der Wirt- schaftspsychologe sieht mehrere Gründe, die die wirtschaftlichen Partnerschaften über die Ostgren- zen drastisch erschweren. Der of- fensichtlichste Faktor ist die feh- lende kommerzielle Bildung, „es fehlt am primitivsten Grundwis- sen". Das Fehlen der kommerziel- len Mentalität erlebe man am stärk- sten beim Umgang mit der Zeit. „Zeit ist nicht Geld für die Leute dort. Bei uns ist Zeit Geld."

Hill stellt fest, daß nicht fachli- ches Können, sondern die psychi- sche Ausstrahlung bisher der ent- scheidende Faktor für die Beset- zung einer Führungsposition war. „Eine imposante Erscheinung, das Charisma, zählt dort um vieles mehr als bei uns."

Ein weiterer Faktor ist die feh- lende Effizienzprüfimg, niemand würde beispielsweise feststellen, daß jemand eigentlich nichts gear- beitet habe. Hill leitet dies aus dem selbstverständlichen staatlichen Versorgungsdenken ab, eine Hal- tung, die aus der Bevormundung durch das planwirtschaftliche Sy- stem resultiere, „Wenn ich nicht aktiv sein kann, muß man für mich sorgen."

Aufgrund Hunderter psychologi- scher Tests im Rahmen von Perso- nalvermittlungsaufträgen konnte Hill feststellen, daß wenig Unter- schied zu österreichischen Ergeb- nissen besteht, was das Persönlich- keits- und Interessensprofil der untersuchten Personen betrifft. Aber Resultate aller Tests unter Zeitdruck seien unvergleichbar. „Die Leute sind gewiß nicht düm- mer, sie sind einfach sehr langsam und noch nicht belastbar."

Eine Folge der Bestrafung von Eigenaktivität und Kreativität durch das kommunistische System, meint Hill, der darin auch eine der Ursachen für den Zusammenbruch des Systems sieht. 40 bis 70 Jahre Konterselektion, so nennen die Betroffenen selbst jenen Wirkungs- mechanismus, der zu einem völli- gen Kollabieren der Personalaus- wahl geführt hat, haben jegliche wirtschaftliche Entwicklung ver- hindert. Gerade weil jemand nicht geeignet war, ging er zur Partei, gerade deswegen kam er in eine Führungsposition. 40 bis 70 Jahre Frustration der fähigen Menschen in den Betrieben, dies führt zu In- aktivität, die jegliche Kreativität bindet. Einwirkungsmechanismus, den Hill auch bei uns ortet, in den staatlichen Systemen, bei den Poli- tikern, im Schulwesen und in man- chen Betrieben.

Ein weiteres Problem entstehe durch die fehlende Selbsteinschät- zung. „Entweder haben sie schwe- re Minderwertigkeitsgefühle, oder sie glauben nach drei Monaten, daß sie plötzlich alles können." Folge des fehlenden Beurteilungshinter- grundes aufgrund der Abgeschlos- senheit. Eine besondere Eigenheit sei auch ihre Auffassung von Ver- trägen, die unfaßbar kompliziert seien. „Es ist ihr größtes Hobby, Verträge zu machen. Sie glauben, durch das Unterschreiben eines Vertrages ist das Geschäft ge- macht." Das Kennenlernen einer neuen Freiheit und einer anderen Art zu Handeln ist ein langsamer Prozeß.

Deshalb sieht Hill einen großen Fehler im Hochjubeln der Joint- Ventures als Kooperationsform und verweistauf 1.800 ungarische „Joint (Ad)Ventures", von denen nur 200 funktionieren. Wenn der westliche Unternehmer mit einer Mehrheits- beteiligung als Riese den Zwerg unter die Achsel klemmt und plötz- lich merkt, daß er keinen wirkli- chen Partner gewonnen hat, so wird der Erfolg letztlich als Ballastem- pfunden. Die andere Möglichkeit besteht darin, daß der Riese selbst hinunter gezogen wird, wenn er nur das Kapital zur Verfügung stellt. Für Hill ein sinnloser Versuch. Die einzige Möglichkeit bestehe darin, die östlichen Firmen zu trainieren, sie partnerschaftsreif zu machen.

Der Osten besitzt eine Menge an Ressourcen, der Westen das not- wendige Wissen um die Nutzung, Grundlage für einen lange dauern- den Prozeß des gegenseitigen Ler- nens. Hill schlägt vor, für den An- fang nur Freundschaftsverträge abzuschließen, Kooperationsver- träge und den Austausch von Ex- perten zu betreiben.

Er sieht die Notwendigkeit neuer Berufsbilder, „Transfermanager" und „Change Agents", deren Auf- gaben die Restrukturierung und das Training sind. Daraus würden zu- sätzlich Lösungen für Probleme unseres Arbeitsmarktes entstehen, beispielsweise des Outplacements. Arbeitnehmern ab 50 sei es unmög- lich, einen neuen Arbeitsplatz zu bekommen. Sie wären mit ihrer Erfahrung aber genau jene, die im Osten gebraucht werden, denn dort herrsche vor allem ein Mangel an praktischem Management, das theoretische Wissen der Menschen sei sehr gut.

Hill bemerkt große Angst der östlichen Gesellschaften, sich in einer Position wiederzufinden, die jener der USA ähnlich ist: wirt- schaftlicher Erfolg auf Kosten so- zialer Errungenschaften. Mit ein Grund, warum unsere östlichen Nachbarn uns mehr Vertrauen schenken, da wir noch nicht im selben Maße vom Streß zerfressen sind und uns eine „hatscherte Art" bewahrt haben, eine gewisse Ver- wandtschaft in der Mentalität.

Zur Zeit sieht Hill das westliche System und die ehemaligen Ost- blockländer in einer Phase der Begegnung auf der Ebene indivi- dualistischer Gesellschaftsent- wicklung. Im Gegensatz dazu wür- den die asiatischen Gesellschaften noch die vorindividuelle Phase durchleben, ein noch nicht emanzi- piertes Individuum definiert sich nur als Teil der Gesellschaft.

Während der Westen den Schritt in Richtung Individualität geschafft hat, befindet sich der Ostblock bereits in der nachindividuellen Phase, in der die Bedeutung von Einzelperson und Familie gegen- über der Gesamtheit zurückgetre- ten sind. Durch Lenin aus der Leib- eigenensituation in den Postindivi- dualismus gesprungen, müssen diese Gesellschaften jedoch zurück in die individuelle Phase. „Das hat nichts mit politischen Prozessen zu tun, sie müssen das nachholen, wir gehen schon weiter und kommen uns deshalb nahe." Den eigentli- chen Krisenherd sieht Hill im asia- tischen Raum, dem der Schritt in die Individualität erst bevorsteht, die unterdrückten Gefühle werden irgendwann explodieren.

Unsere Wirtschaft wäre also auf- gerufen, gemeinsam mit dem Osten eine Art strategische Planung zu starten. Die Staaten müßten ge- meinsam unter Erhaltung der Indi- vidualität und Einbringung der Vorteile des einzelnen Landes eine Partnerschaft mit verteilten Rollen anstreben. Dies würde zu Syner- gien führen, erwartet Hill, „man bereichert sich nicht aneinander sondern miteinander". Bereiche- rung durch Erfahrungsaustausch.

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