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Der Balkan

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Vom Balkan ist selbst in Österreich nicht sehr viel mehr bekannt, als daß er am Rennweg beginnt. Schon wo er endet — am Bosporus? Auf Zypern? In Bagdad? —, vermag mit Sicherheit niemand zu sagen, zumal Metternich keine diesbezügliche Äußerung hinterlassen hat. Und erst recht gehn die Meinungen darüber auseinander, was gleichsam spirituell unter diesen Begriff zu fassen wäre. Also behilft man sich mit Kriterien wie Schlamperei und Korruption — als ob es dasselbe sei, in Hamburg oder in Banja Luka kein Billett zu lösen! —, man wittert abwechselnd Knoblauch und Verschwörung, verwechselt ständig das Eiserne Tor mit der Pforte, hält jede rumänische Stadt für ein böhmisches Dorf, und den einen Topf, in den man all seine Vorurteile geworfen hat, identifiziert man dann, tief befriedigt, als das sprichwörtliche Pulverfaß. Die vorurteilsfreie Erkenntnis, daß gut die Hälfte aller Vorurteile stimmt, macht die Sache aber nur noch komplizierter.

Um so verwunderlicher ist es, daß dem Balkan („als solchem“, wie man in deutschen Landen zu sagen pflegt) noch keine ernsthaften Untersuchungen gewidmet worden sind: er kommt, trotz seiner zentralen Lage, stets nur am Rande vor. So jedenfalls klagt Franz Sulke in seinem „Balkan-Brevier“, das freilich diese Lücke nicht schließen, sondern nur Marginalien vorsorglich beisteuern will zu dem erst zu schreibenden Opus magnum. Der Verfasser — gelernter Agraringenieur, jahrzehntelang im Dienst einer auf dem Balkan stark engagierten supranationalen Versicherungsfirma, jetzt, in Pension, seinen literarischen Neigungen frönend — hat niedergeschrieben, was er im Freundeskreis unnachahmlich zu erzählen wußte aus dieser Welt von gestern, zwischen Rennweg und

Levante, zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg: nicht das Weltbewegende, sondern das Herzbewegende. Der buchhändlerischen Bequemlichkeit wegen mag man von Anekdoten sprechen; vielleicht von Histörchen, wie sie um jede Historie sich ranken. Tatsächlich ist, was der Autor bietet, Familientratsch — also etwas, das man zutiefst nur kapiert, wenn man die Interna dieser Familie kennt, und diese Familie ist die alte Monarchie: die alte Monarchie nun, nach 1918, nicht mehr als Staatsform, sondern als Lebensform verstanden, und zwar, konkret, als eine Antithese zum Deutschtum oder, genauer gesagt, zur Deutschtümelei. Ob die (normalerweise nicht gerade mit urgermanischen Namen gesegneten) Deutschnationalen es nun wahrhaben wollen oder nicht: sogar das deutsche Österreich war und ist, bis heute, weit mehr von Byzanz determiniert als von Rom oder gar von Berlin, Paris und anderen nordischen Provinzmetropolen, wo man, naiv reaktionär, noch an den Fortschritt — i. e., theologisch gesprochen, die Erlösung — glaubt. Zwischen Prag und Ragusa, zwischen Meran und Budapest, zwischen Triest und Tarnopol aber wußte und weiß man, daß der Teufel gesiegt hat, und ist zugleich der alten slawischen Weisheit inne: „Wer den Weg weiß, lebt auch in der Hölle behaglich.“

Ein Hauch dieses (jedem Westler natürlich unerträglichen) Klimas weht in den Blättern dieses Büchleins, dessen skurriler Inhalt also weniger belacht als bedacht sein will.

VON ZWETSCHKENBARONEN UND ANDEREN GOSPONEN ODER BALKAN-BREVIER. Von Franz Sulke. 203 Seiten, mit 16 Illustrationen. Paul Neff Verlag. Wien und Berlin.

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