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Digital In Arbeit

Die Armut an der Grenze

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So viele Pfändungen wie im ersten Halbjahr 1984 hat es im niederösterreichischen Waldviertel noch nie gegeben. Sorgenfrei waren die Menschen dort noch nie-, mals. Aber nun stieg in einer der ärmsten österreichischen Regionen die Exekutionshäufigkeit um rund zehn Prozent an.

Die Gründe dieser Entwicklung sind vielschichtig. Im privaten Bereich, so erfährt man von den Exekutionsgerichten, sind jene Menschen am meisten exekuti-onsgef ährdet, die nur selten einer geregelten Arbeit nachgehen, zumindest zeitweise weit über ihre Verhältnisse leben und gebotene Chancen, ihrer bedrohlichen finanziellen und auch sonst tristen Lebenssituation zu entkommen, nicht nützen.

Der Richter am Bezirksgericht Horn, Friedl Hradecky, spricht von sozialen Randschichten, in denen die Exekutionshäufigkeit zumindest im nördlichen Waldviertel um 15 bis 20 Prozent angestiegen ist. Verständlich, denn in unserer Zeit wirtschaftlicher Schwäche ist es wesentlich schwieriger, kurze Verdienstmöglichkeiten zu finden, als in Phasen wachsender Konjunktur, wenn der Arbeitsmarkt leichter kurzfristig Arbeitskräfte aufnehmen kann.

Sicher hat auch das Pfuschen, das nicht selten Jahre hindurch einzige Erwerbstätigkeit ist, als

Einkommensquelle durch strengere polizeiliche Kontrollen und Strafen an Bedeutung eingebüßt.

Daneben treibt die hohe Arbeitslosigkeit die Zahl der Exekutionen in die Höhe. Im Horner Bezirk waren im Februar 1980 403 Arbeitslose gemeldet, im Februar 1983 waren es schon 724. Noch schlimmer ist die Situation im Zwettler Bezirk: hier erhöhte sich die Anzahl der Arbeitslosen im selben Zeitraum von 1196 auf 1646.

Das Einkommen schrumpft mit dem Verlust des Arbeitsplatzes spontan auf oder unter das Existenzminimum. Die Lebenshaltungskosten und Kreditrückzahlungen als unglückliches Relikt besserer Zeiten sind schließlich nicht mehr zu bewältigen. Ver-und Uberschuldung gehen Hand in Hand.

In der Land- und Forstwirtschaft stellen die Aufnahme von Krediten und Käufe auf Raten ein besonders hohes Risiko dar, weil die Bauern über kein regelmäßiges Einkommen in gleichbleibender Höhe verfügen. Zudem können unvorhersehbare Erntekatastrophen, wie gerade 1984 im Waldviertel, zu finanziellen Zusammenbrüchen führen.

Auch die Zahlungen an Versicherungen, unüberlegte Großeinkäufe bei Warenversandhäusern und Anschaffungen von Luxusgegenständen aller Art spielen eine entscheidende Rolle.

Etwas weniger beängstigend ist die Entwicklung der Exekutionsfälle unter den Gewerbetrieben, obwohl auch hier besonders seit 1982 die Exekutionshäufigkeit ständig ansteigt. Die vorherrschenden Klein- und Mittelbetriebe erweisen sich als wesentlich krisenfester und bodenständiger als so mancher Großbetrieb.

Gerade die im Waldviertel seltenen Filialketten bewegen sich dagegen oft am Rande des Ruins. Sie wollen ständig expandieren. Dazu müssen sie ständig investieren, auch um den Steuern aus dem Weg zu gehen.

Die Abhängigkeit von Großbetrieben kann den Klein- und Mittelbetrieben das Genick brechen. Investitionen, die nur mit großen Krediten möglich sind, werden oft im Vertrauen auf Großbetriebe getätigt. Melden die Großbetriebe Konkurs oder Ausgleich an, bleiben die Klein- und Mittelbetriebe mit ihren Schulden auf der Strek-ke.

Ein psychologischer Faktor für die stark angestiegenen Exekutionsfälle war die Gewöhnung an die ständig wachsende Konjunktur seit 1955. Viele machte sie blind und in ihren Investitionen arglos. Selbst zehn Jahre nach dem Erdölschock, der dem Aufstieg ein jähes Ende gesetzt hat, sind die Folgen fehlgeplanter Investitionen noch lange nicht überwunden.

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