7071865-1993_04_03.jpg
Digital In Arbeit

Die Attraktivität des Sozialstaates

19451960198020002020

In Österreich - wie auch in anderen Ländern - nimmt die Befürchtung zu, daß „Sozialabbau” kein Tabuthema bleibt. Ist eine solche Diskussion angesichts der wirtschaftlichen Krise wirklich gerechtfertigt? Kann der Sozialstaat gerade jetzt abspecken?

19451960198020002020

In Österreich - wie auch in anderen Ländern - nimmt die Befürchtung zu, daß „Sozialabbau” kein Tabuthema bleibt. Ist eine solche Diskussion angesichts der wirtschaftlichen Krise wirklich gerechtfertigt? Kann der Sozialstaat gerade jetzt abspecken?

Werbung
Werbung
Werbung

Daß Präsident Leopold Maderthaners Vorschlag, künftig solle jeweils der erste Krankenstandstag eines Arbeitnehmers von der Lohn- beziehungsweise Gehaltsfortzahlung ausgenommen sein und diesem als „Selbstbehalt” zu den dadurch entstehenden Kosten des Produktionsausfalls angelastet werden, einen Sturm der Entrüstung auslösen würde, war zu erwarten. Er richtet sich nur zum Teil gegen den Anlaßfall selbst; darüber hinaus verbreitet sich die Befürchtung, daß mit dem ersten Vorstoß dieser Art in Österreich das Signal zu einem Abbau von Sozialleistungen gesetzt werden soll.

Geht es um die Bekämpfung von Mißbrauch, so scheint tatsächlich der Anlaß unglücklich gewählt. Mit dem Vorschlag wird pauschal ein Verdacht erhoben, der in Einzelfällen gerechtfertigt sein mag, der aber als generelles Problem von sozialpolitischer Tragweite kaum nachzuweisen ist.

Die einzig verfügbaren statistischen Daten der Krankenversicherungsträger lassen keinen Trend zu steigender Krankenstandshäufigkeit erkennen; sie umfassen aber nur die aufgrund eines ärztlichen Attestes gemeldeten Fälle, nicht aber die „Kurzkrankenstände” (bis zu drei Arbeitstagen), auf die sich der Mißbrauchsvorwurf wohl in erster Linie bezieht. Daß diese nunmehr häufiger und in ungerechtfertigter Weise in Anspruch genommen werden sollen, scheint wenig plausibel, da gleichzeitig das Überangebot an Arbeitskräften wächst und der Rationalisierungsdruck den Kampf um den Arbeitsplatz verschärft. Darüber hinaus werden krankheitsbedingte Produktionsausfälle wohl überwiegend nachträglich aufgearbeitet oder durch Mitarbeiter wettgemacht und halten sich in Grenzen.

Um den behaupteten Mißbrauch zu bekämpfen, müßten administrative Vorkehrungen ausreichen: nicht nur jene cürch Kontrollorgane der Versicherungsträger, sondern auch betriebsinterne Maßnahmen der Arbeitsorganisation. (Die Statistik liefert Hinweise dafür, daß die Krankenstandshäufigkeit in Großbetrieben höher ist als in Klein- und Mittelbetrieben).

So wenig geeignet der Anlaß sein mag -eine Diskussion über möglichen Mißbrauch von Sozialleistungen und seine Bekämpfung ist dennoch angebracht. Sie wurde in Österreich bisher beharrlich umgangen. Vor allem von den Arbeitnehmerorganisationen wurde dieses Thema geradezu tabuisiert - in wessen Interesse eigentlich?

Jeder weiß von Fällen, in denen etwa der Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe den Anreiz zur Aufnahme einer (gemeldeten) Beschäftigung verringert; in denen werdende Eltern nicht heiraten, um in den Genuß des höheren Karenzurlaubsgeldes für ledige Mütter zu kommen; in denen Bauoder Fremdenverkehrsbetriebe in gegenseitigem Einverständnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern die Saisonpause verlängern, um einen größeren Teil der Lohnkosten auf die Arbeitsmarktverwaltung abzuwälzen.

Billige Argumente

Wenngleich solche Fälle in begrenztem Maße auftreten - und von einigen Massenmedien stark thematisiert werden - sind sie freilich kein Argument gegen die Notwendigkeit des sozialen Schutzes an sich. Weder sind sie die Ursache der Finanzierungspröbleme, noch verringern sie in drastischem Ausmaß das Arbeitsangebot. Nein, das Hauptproblem von Mißbrauchsfällen ist, daß sie das System bei denen, die es finanzieren - Arbeitnehmern wie Arbeitgebern - in Mißkredit bringen und demagogischen Kritikern des Wohlfahrtsstaates billige Argumente liefern.

Der Vorwurf des Mißbrauchs trifft nur allzu schnell den Arbeitslosen, der eine Unterstützungsleistung bezieht. Doch ist dies stets gerechtfertigt? Wo liegt die Grenze zwischen Mißbrauch und der tolerierten Ausnützung eines ökonomischen Vorteils? Wer mag es einem Arbeitsplatzwechsler verdenken, wenn er den Antritt seiner neuen Beschäftigung um einen Monat hinauszögert und zur Überbrük-kung Arbeitslosengeld bezieht, auf das er durch Beitragsleistung Anspruch erworben hat? Ist nicht die rein formale Anmeldung eines Familienmitglieds als Beschäftigter durch den Unternehmer ein ähnlich problematischer Fall, wenn sie bloß zur Erlangung von Versicherungsansprüchen beziehungsweise von Steuervorteilen dient? Oder die Ausnützung einer Förderung etwa für eine Investition, die man auch ohne öffentlichen Zuschuß getätigt hätte - ein generelles Phänomen, das die ökonomische Literatur als „Mitnahmeeffekt” bezeichnet?

Hilfe für die, die sie brauchen

Die Erkenntnis von Inkonsistenzen im System der sozialen Sicherheit darf nicht bloß in den Vorwurf des Mißbrauchs an jene münden, die diese Schwächen mehr oder weniger legal zu ihrem Vorteil nützen. Vielmehr ist sie eine klare Aufforderung sowohl an die Gesetzgebung wie an die Vollzugsorgane der Sozialgesetze, stets auf die Effizienz der Förderung zu achten; daß sie also möglichst nur jenen zufließt, die ihrer tatsächlich bedürfen.

Die zunehmende Alterung der Bevölkerung, die Öffnung der Grenzen und Veränderungen in der internationalen Arbeitsteilung stellen auch die Sozialpolitik künftig vor große Herausforderungen. Sie hat darauf zu achten, daß die erforderlichen Anpassungsprozesse unter möglichst geringen Reibungsverlusten erfolgen. Die Finanzierung dieser Aufgaben setzt hohe Wirtschaftskraft ebenso voraus wie die Bereitschaft von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die erforderlichen Beiträge an die sozialen Kassen zu leisten.

Diese Bereitschaft wird umso größer sein, je mehr die Erwerbstätigen von der Leistungsfähigkeit und Effizienz der sozialen Einrichtungen überzeugt sind.

Der Autor ist Referent für Sozialpolitik im Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung des Autors wieder.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung