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Die lockenden Sirenen

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Dies ist nicht die Zeit für zeitlose Themen. Eingekreist von Schreckensbotschaften durch die Allgegenwart der Medien, haben wir Krieg um uns. Wir werden mit Informationen „bombardiert". (Diese Kriegsvokabel erhält immer wieder neue Aktualität, ehe die Gesellschaft sich entschließen kann, sie aus ihrem Wortschatz zu streichen.) Die Medien, deren Technik die zeitliche Einheit von Ereignis, Senden und Empfangen ermöglicht, erweisen sich als Vermittler von Hiobsbotschaften. Wir hören die Sirenen heulen, ohne in den Keller laufen zu müssen. Die Sirenen anderer Städte, kaum eine Halbtagsreise entfernt. Die Sirenen der Erinnerung, kaum ein Halbjahrhundert entfernt, selbst erlebt oder durch Hörensagen aufgenommen. Wir leben im Kontinuum von Sirenengeheul, immer in Gefahr bombardiert zu werden, und sei es mit Wörtern und Bildern. Wir gießen uns das Wachs der Gewohnheit in die Ohren und binden einander mit den Seilen der Gleichgültigkeit, um unbeschadet an den Sirenen vorbeizukommen, taub und gebunden - also ohne alle unsere Sinne beisammen zu haben.

Halb vogel-, halb frauengestaltig, erzählt der Mythos, sitzen die Sirenen auf ihren Klippen, die von den Knochen der Gestrandeten bedeckt sind. Totengeister sind sie, und den Zaubertönen ihres Gesanges widersteht man nicht. Doch ist es nicht nur die Schönheit ihrer Stimmen, die so unentrinnbar fesselt, sie ziehen auch durch übernatürliches Wissen an. Der wißbegierige Ody sseus vernahm zwar ihre hellsichtige Weisheit, aber zu welchem Nutzen?

Wer immer es war, der eine technische Alarmanlage zur Warnung der Bevölkerung vor tödl icher Gefahr nach den singenden Totengeistern des Mythos benannte, er hatte wohl die Unbedingtheit im Auge, mit der der

Stimme zu folgen und die Flucht unverzüglich anzutreten sei. Warnung - Entwarnung. Leben als Überleben. Die Fortsetzung der Odyssee.

Für eine kurze Zeit hatte es so ausgesehen, als würde sich die Hoffnung mit der Wirklichkeit verbinden. Der Bildschirm machte uns zu Zeugen, wie Mauern abgetragen und Stacheldrähte durchgeschnitten wurden. Niemandsland wurde zu Land für alle, Grenzen zu Orten der Begegnung, wo Menschen einander in den Armen lagen. Neues Vertrauen in die menschlichen Möglichkeiten kam auf. Ein Jahrtausend geht zu Ende, warum nicht auch eine Epoche? Haben wir nicht lange genug unsere „Homo-homini-lupus"-Unnatur ausgelebt? Die Vision von einer Welt in Frieden breitete sich aus. Das Ende des Kalten Krieges verhieß die Möglichkeit der Beendigung jeglichen Krieges: Verheißungsvoll, betörend wie die schimmernde Stille, die den Klippen der Sirenen vorgelagert ist. Denn neben der Schönheit und der Weisheit ihres Gesanges haben die S irenen noch einen dritten Zauber, um die Seefahrer an sich zu ziehen: schönstes Wetter.

Potential des Hasses

Nachdem Odysseus den Sirenen entronnen war, steuerte er auf Scylla und Charybdis zu, in deren mörderischen Strudel alle Schiffe verloren waren. Ihn rettete höhere Fügung. Wer aber rettet die Hoffnung, die ihre Verwirklichung schon berührt hatte, und nun in den Strudeln des Fremden-, Rassen- und Nationalitätenhassts zugrunde geht? Das Potential des Hasses ist nicht kleiner geworden, es hat sich nur neue Wege gebahnt, weil ihm manche der alten verweigert wurden. Kein noch so geglückter Weltraumflug oder Vergleichbares kann uns darüber hinwegtrösten, nicht einmal davon ablenken. Die wahre Freude über einen „Fortschritt" kann sich nur auf einen Fortschritt der Menschlichkeit und des Herzens beziehen.

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