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Nationalismus als Faktum
Es war ein Vermittlungsversuch besonderer Art, als das österreichische Ost- und Südosteuropa- Institut kürzlich rund 20 Historiker, Tschechen, Sudetendeutsche und Österreicher von der Universität, von der Akademie der Wissenschaften, von staatlichen und privaten Forschungsinstituten nach Baden bei Wien einlud, um drei Tage lang über die „Probleme des Nationalismus in den böhmischen Ländern im 19. und 20. Jahrhundert" zu referieren und zu diskutieren. Ein brisantes Experiment ging über österreichische In- tiative über die Bühne, aber dennoch: die Sensationen blieben aus. Sie waren auch weder beabsichtigt noch wurden sie erwartet. Im Gegenteil: ein internationales Team von Fachleuten, die vorwiegend der mittleren und jüngeren Generation angehörten, sollten die Standpunkte klären, sie ihrer Ressentiments, ihres leidenschaftlichen, nationalistischen Beiwerks entkleiden und über den Nationalismus als historisches Faktum diskutieren.
Das Experiment ist gelungen, und die Standorte sind heute vielleicht klarer Umrissen, wenngleich sie selbstverständlich unverrückt geblieben sind.
Die Gespräche wurden einerseits über die tschechische nationale Wiedergeburt und den tschechischen Nationalismus sowie über die Entwicklung des deutschen Nationalismus geführt, wobei besonders die Rolle des Bürgertums beleuchtet wurde, anderseits nahm man das tschechische und das deutsche Parteiwesen unter die Lupe. Natürlich betonten die Tschechen die Eigenständigkeit der Kräfte und Ideen, die zielführend zur Entwicklung ihrer Nation beitrugen, während die sudetendeutsche Seite mehr auf jene von West nach Ost, von Frankreich über Deutschland zu den Slawen fortschreitende politische Welle verwies, in der die sich formierenden Völker geistig und politisch voneinander abgegrenzt wurden.
Die breite Basis für die nationale Bewegung bot jedenfalls das aufstrebende Wirtschaftsbürgertum, das sich auf der tschechischen Seite vorwiegend zum agrarischen Unternehmertum und bei den Deutschen zum Industriebürgertum formierte: ein weiterer Antagonismus war damit geboren.
Die Bauern — deutsche wie tschechische — waren durch die josephinische Reform sozial befriedigt und an nationalen Ideen relativ desinteressiert.
Die deutschen und tschechischen politischen Parteien verschärften gerade durch ihre Zersplitterung — ein Erbe der Monarchie — die Situation. Man kann in der Zwischenkriegszeit drei Phasen unterscheiden: die Periode des Negativismus, zwischen 1918 und 1920, als beide Lager scharf und offen gegeneinanderstanden, den Zeitraum des Aktivismus von 1920 bis 1933, als Beschwichtigung und Zusammenarbeit die deutschen und tschechischen Parteien einander näherbrachten, und dann die unselige Zeit zunehmender Vergiftung des politischen Klimas nach Hitlers Machtübernahme, die schließlich zur „Heimkehr des Sudetenlandes“, dann zur „Erledigung der Resttschechei“ führten.
Doch nicht nur nationale Leitbilder gaben allein den Ausschlag; bei den Agrarparteien etwa überwog das ständische Interesse und die erst 1921 gegründete KPČ stellte die soziale Frage über die nationale.
Die nationalen Verbände — Sokol und Legionäre auf der einen, Turn- verband, Deutscher Kulturverband und Bund der Deutschen auf der anderen Seite — erwiesen sich als meinungsbildend, viel mehr als die politischen Parteien.
Jedenfalls: Sachliche Beiträge und kritische Diskussionen beherrschten das Feld und, um ein Wort des Unterrichtsministers zu gebrauchen, das er bei der Eröffnung dieses Symposions gleichsam als Motto vorausstellte: die Teilnehmer diskutierten unter dem Aspekt einer intellektuellen Redlichkeit — und das allein ist als beachtenswerter Fortschritt zu buchen, der den Weg frei macht für weitere und intensivere Gespräche.
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