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Ein Vorgeschmack auf die Freiheit

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Der ungarische Weg zum Sozialismus ist wieder um eine Facette reicher: Unterhaltung und Problembewußtsein sorgen für ein abwechslungsreiches Fernsehprogramm für den Bürger.

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Der ungarische Weg zum Sozialismus ist wieder um eine Facette reicher: Unterhaltung und Problembewußtsein sorgen für ein abwechslungsreiches Fernsehprogramm für den Bürger.

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Die Stimme des eigenen Volkes bekommen ungarische Politiker aus dem staatlich kontrollierten Fernsehen seit kurzem zu hören. Was für kommunistisch regierte Länder keineswegs üblich ist -daß die Machthaber ihre Untertanen persönlich zu Wort kommen lassen -, hat sich in Ungarn nun schon sei wenigen Jahren eingebürgert.

Ungeschminkt und unbarmherzig wird den Mächtigen des Landes in der äußerst populären Sendung „66“ die Wahrheit ins Gesicht gesagt, werden Fehler und Versäumnisse aufgezählt und ihre Beseitigung urgiert.

„Es gibt eigentlich kein Thema und keine Frage, die in meiner Sendung nicht gestellt und beantwortet werden kann“, erklärt Ja-nos Ban, der Moderator von „66“, die ihren Namen davon ableitet, daß neben den Politikern und Vertretern des öffentlichen Lebens jeweils 66 Bürger des Landes eingeladen werden, die offen über ihre Sorgen und öffentliche Mißstände mit den Politikern reden.

Was den Ausbruch aus dem ehemals starren System des streng kontrollierten Fernsehens ermöglichte, war nicht so sehr die Tatsache, daß professionelle Fernsehleute provokante Fragen an die Politiker richteten, sondern vielmehr die spontane Reaktion der ungarischen Bürger selbst, die sich nicht länger ein Blatt vor den Mund legen wollten.

Wie in der Wirtschaft, so verstanden es die Ungarn schon immer auch in anderen Bereichen, trotz kommunistischer Herrschaftein wenig mehr an Freiheit und Phantasie zu entwickeln als andere Ostblockstaaten. Es gelang ihnen, sich leichter den widrigen Umständen des sozialistischen Gesellschaftssystems anzupassen und dadurch als das „westlichste aller Oststaaten“ zu erscheinen.

Aus einer Mischung von amerikanischer Showsendung, österreichischem „Argumente“-Bei-geschmack und „Wetten, daß . .“-Einlagen begann vor nunmehr vier Jahren die Sendung „66“, heiße Eisen des heutigen kommunistischen Ungarns anzupacken und offen beim Namen zu nennen.

Der Großteil der Fragen der 66 eingeladenen Bürger an ihre Politiker erstreckt sich naturgemäß auf innerungarische Probleme und Themen, die die Leute in ihrem alltäglichen Leben bedrük-ken.

Freilich, provokante Fragen nach dem sozialistischen Gesellschaftssystem wird man wohl immer vermissen, dazu sind die Sendungen viel zu loyal dem System ergeben, solche Fragen gehören unausgesprochen zum Nonplusultra der Programmrichtlinien.

Trotzdem, so versichern Verantwortliche des staatlichen Fernsehens, bieten diese und ähnliche Sendungen eine der wenigen Möglichkeiten für die Ungarn, wenigstens einen bestimmten Einfluß auf die Regierung zu nehmen.

Die zwei Kanäle des ungarischen Fernsehens sind zugleich auch ein Testbarometer für die ungarischen Machthaber, die aus diesen Sendungen heraushören können, wo ihre Untertanen der Schuh drückt und dadurch auch entsprechende Schritte zur Beseitigung unternehmen können, meint Denes Damjan, stellvertretender Programmdirektor des ungarischen Fernsehens.

„Die Behörden haben sich längst damit abgefunden, das kulturelle Geschehen im einzelnen zu diskutieren, stattdessen begnügen sie sich damit, die Grenzen abzustecken, wieweit man gehen darf und wieweit nicht“, meint Miklos Haraszti, Schriftsteller und Dissident. Wo aber die Grenzen tatsächlich sind, darüber gibt es vielfältige Auseinandersetzungen.

Noch in diesem Monat wird aber im ungarischen Parlament ein Gesetz verabschiedet, das strengere Richtlinien für die journalistische Arbeit vorsieht und jeglicher Agitation im Untergrund den Kampf angesagt hat. Die neue Gesetzeslage wird die ungarische Samizdat-Szene und Untergrundpublikation noch mehr erschweren als bisher.

Im Unterschied zu anderen Ostblockländern gelang es den ungarischen Behörden schon in der Vergangenheit nach der Devise von Zuckerbrot und Peitsche, die überwiegende Mehrheit aller ungarischen Künstler und Intellektuellen innerhalb der offiziell zugelassenen Normen zu halten.

Die bemerkenswerte Öffnung der engen gesetzlichen Richtlinien für die Wirtschaft in den 70er Jahren - die als der ungarische Weg zum Sozialismus bekannt wurde — brachte auf anderen Gebieten, wie den Medien, noch lange keine vergleichbare Entwicklung. Weil das Fernsehen in seiner Wirkung und Ausstrahlung oft unabsehbare Wirkungen erwek-ken kann, behandelten alle kommunistischen Machthaber dieses Medium argwöhnisch.

Erst in den letzten Jahren begann sich auch in diesem Bereich eine lockere Handhabung abzuzeichnen. Alte, nach den strengen Kriterien der Staatsideologie verfaßte Programme wurden ersatzlos gestrichen und stattdessen neue, dem Unterhaltungsbedürfnis entgegenkommende Sendungen kreiert.

Gleichzeitig begannen sich auch die Nachrichtensendungen aufzulockern und brachten ein umfassenderes und nicht nur einseitiges Bild der Weltlage. Unterhaltung und Problembewußtsein könnte man das neue Verpackungsrezept des ungarischen Fernsehens nennen.

Die populäre Sendung „66“ von Janos Ban scheint ganz diesem Trend zu folgen und dadurch die ungarische Spielart des Sozialismus um eine Facette zu bereichern. „Nach jeder Sendung kommen etwa 20.000 Leserbriefe als Reaktionen auf meine Sendungen“, meint Janos Ban selbstbewußt.

Die zur Sendung jeweils eingeladenen Politiker und Vertreter des öffentlichen Lebens werden am Beginn der Sendung jeweils kurz vorgestellt und geben in Form von Statements die Grundzüge ihrer Politik dem Publikum bekannt.

Danach können dann die 66 anwesenden Leute aus dem Publikum ihre persönlichen Fragen und Beschwerden an den Gast richten. Ähnlich wie bei „Wetten, daß ..“ drücken sie dann nach der Antwort auf einen Knopf und stimmen mit „Ja“ oder „Nein“ über ihr Gefallen ab.

Entspricht eine Antwort des Politikers oder Beamten nicht der Zufriedenheit der Mehrheit des Publikums, so muß der Kandidat nach einer anderen Variante suchen, die seine Zuhörer mehr zufriedenstellt als vorher.

Dadurch scheint sich der spezielle ungarische Weg auch in diesem Medium erneut durchzusetzen, denn ähnlich der Salamitaktik, wird auch hier Angenehmes in Form der Unterhaltung zusammen mit Unangenehmem in verdaulicher Menge serviert und dadurch dem ungarischen Publikum der sozialistische Weg wieder schmackhafter zubereitet

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