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Friede ist Leben in Konflikten

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Friede: ein geschändetes Wort in einer geschändeten Zeit. Wir wissen es alle: Friede wird in unserem Jahrhundert gesprochen, in Reden beschworen. „Der Parteitag des Friedens“, Nürnberg: Hitlers Kulisse seiner Vorbereitung seines Krieges.

Friede: Friedensmacher, Friedensräte, Friedenskongresse, inspiriert und dirigiert, um Anklagen der Weltöffentlichkeit vorzutragen: gegen die „Kriegsbrandstifter“ in Washington, im Westen.

Friede: ein verpöntes Wort, nach innen hinein. Verbot, in der Deutschen Demokratischen Republik eine Friedensbewegung zu gründen.

Friedensbewegungen: sie sind heute auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen. Es war blanke Torheit, daß prominente konservative Politiker der Bundesrepublik die Dreihunderttausend, die in Bonn eine Friedenskundgebung veranstalteten, als „neue Volksfront“ diffamierten, als

Söldlinge des Kremls, als Toren, Narren. Die Friedensbewegungen im Heute sind gerade in Westeuropa, das so lauthals und töricht als Kriegsschauplatz Nr. 1, als Spielwiese für „begrenzte“ Kriege mit nuklearen Waffen angesprochen wurde, auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen.

Junge Generationen — Mehrzahl - kamen hier mit älteren Generationen zusammen: in ihrer Mitte ein Heinrich Böll, Männer der evangelischen Kirche, katholische, evangelische, liberale, sozialistische und - eine kleine Minderheit — linksradikale Jugendliche, dazu Frauen, Mütter — ja, warum sollen Mütter mit Kindern nicht auf die Straße gehen, wenn sie glauben, so die Politiker noch ansprechen, noch erreichen zu können?

Als die erste große Diffamierung einer damals noch keimhaften Friedensbewegung in der blutjungen Bundesrepublik Deutschland ihre trüben Wellen schlug und eine infame Hetze gegen den Denker des Friedens, Reinhold Schneider, begann, schrieb er mir am 6. Juni 1951, also vor 30 Jahren:

„Die Christenheit sieht heute nicht, welche Katastrophe es ist, daß das Wort .Friede zur Parole der Gegner dessen werden konnte, der es sprach; und statt die Schuld bei sich selbst zu suchen, verfolgt sie die wenigen, die vom Todesernst dieses Wortes ergriffen wurden.“

Und am 9. Februar 1951 schrieb er mir: „Man muß die Öffentlichkeit fast für verloren ansehen. Ich mußte die politischen Betrachtungen, die ich in unserem Sender hatte, aufgeben; eine Zeitung, die wirklich sagt, was gesagt werden müßte, gibt es nicht mehr; Regierung und Parlamente dienen der Wahrheit nicht, aber auch nicht einmal der Volksmeinung, die doch wahrlich mit der Wahrheit nicht gleichgesetzt werden kann. Das Volk müßte heute auf die Straße, um einigermaßen zu sagen, was es will; sobald es aber erscheint, wird es wieder Objekt.“

1951—1981: wieviel hat sich seither geändert, wie viele Menschen sind in ihrer Mentalität dieselben geblieben? Auch in Österreich - in einer Mentalität von 1914: „Kriege muß es immer geben“. Und: „Die Leut’ sollen zu Haus bleiben und erst arbeiten lernen, dann sollen sie den Mund aufma- chen.“

Angesichts dieser Miseren rechts, links und in der Mitte, soll hier gesagt werden, was Friede ist, lebendiger Frieden:

Friede ist Leben in Konflikten. Sehr wohlmeinende Bedenker und Sprecher und Verfasser etwa auch der päpstlichen Friedensworte in diesen letzten Jahrzehnten verstehen Friede als pax et ju- stitia, als einen „wahren Frieden“, der auf „der Gerechtigkeit“ beruhen müsse, sonst sei er eben kein Friede, sondern Lug und Trug oder eben Traum und Illusion.

Beschworen wurde da eine Pax Romana — sie wurde zur Flagge einer katholischen Friedensbewegung gewählt. Nun: die Pax Romana der alten Römer war eine sehr grausame Sache, ebenso wie

zeitweise die Pax Hispanica und wie geschlossene Friedens-Produktionen heute in „sozialistischen“ Staaten.

Pax Romana: Befriedung der unterworfenen Völker mit allen Mitteln, Zerstörung von germanischen, keltischen Heiligtümern, Umsiedlung vop Völkern. Ja, auch Ausrottungen.

Jeder geschlossene Friede, mag er als Pax Romana, Pax America- na, Pax Sovietą sich präsentieren, wird durch diese Struktur geprägt: Friede wird im Inneren gemacht, durch Gleichschaltung der Einwohner dieses Friedensraumes mittels Schule, Presse, Massenmedien, Polizei, etc. — und er wird nach außen kämpferisch vertreten. Friede ist in diesem Fall Befriedung nach innen, und Kampf nach außen, klassisch formuliert im Spanien der „katholischen Könige“: paz entre cristia- nos y guerra contro los infideles. Friede unter den Christen - Krieg gegen die Ungläubigen.

Ein offener Friede ist etwas ganz anderes: er ist ein Leben, ist eine Politik, ist eine Praxis, die wissen: jedes Leben, Menschenleben, ist eine starke Spannung zwischen sehr gegensätzlichen Elementen im leiblichen Körper, in der Psyche, in der Seele!

Erich Neumann, der „Kronprinz“ des C.G. Jung, Berlin, dann Jerusalem, hat seinerzeit eindrucksvoll und vorbildlich für viele Psychologen und Tiefenpsychologen aufgezeigt, daß Friede, lebendiger Friede, im Menschen, im vitalen, dynamischen Menschen, ein hochkomplexes Gefüge von gegensätzlichen Kräften ist, die oben, unten und inmitten Zusammenwirken, indem sie lebenslang miteinander ringen.

Statischer Friede im Menschen ist bereits ein Kirchhofsfriede, ein „fauler Friede“: Menschen, die ständig sehr viel in sich unterdrücken, verdrängen, leben als lineare Existenzen, früh erstarrt, verfestigt; sie lassen sofort ihren Eisernen Vorhang herunter, wenn ein anderer eine Wirklichkeit, eine Tatsache berührt, die in ihnen nicht zur Sprache kommen soll.

Es sind diese Menschen, die sich selbst falsch befrieden, indem sie alle Elemente der Unruhe, des Zweifels, alle ihre „Schwierigkeiten“ permanent unterdrücken, die als Eltern, Lehrer, Politiker, Kirchenmänner Friede nur als ein „Ordnung-Machen“ verstehen können, und in großer Angst davor zurückscheuen, Frieden, lebendigen Frieden in sich selbst, im Haushalt, in der Ökonomie ihrer Person, als eine permanente Schwebelage, als ein Leben in Konflikten zu verstehen, in dem sich tagtäglich neue „Gegner“ zu Wort melden können, die als uner

laubte Triebe, „Leidenschaften“, Versuchungen, etwa auch des „Fleisches“, des Geistes auszuscheiden sind.

Es sind diese Menschen, in denen die Angst vor dem Ausbruch des Großen Friedens so groß ist, daß sie lieber Krieg auf sich nehmen wollen — um ihre innere „Ordnung“, ihre mühsam erkämpfte Unterwerfung ihres leibseelischen Untergrundes zu erhalten: Statos quo um jeden Preis.

Wer aber sein Leben als ein Leben voll reicher und oft so anstrengender Konflikte in der Person auf sich nimmt, kann einse- hen: Friede ist nicht zu „machen“, indem ich andere Menschen auf meine Meinung, meinen Glauben, meine politische Überzeugung zu

verpflichten suche — missionarisch für mich werbend, mit allen Waffen, die zur Verfügung stehen.

Friede geben, Friede schaffen ist dies: Anerkennung der Konflikte, die durch die Präsenz der gegnerischen Mächte, politischen Ideologien, Konfessionen, der verschiedenen Denkstile, Glaubensstile, Lebensstile heute auf dieser Erde gegeben sind — und die sich ausdrücken in Kriegen, Rebellionen, Aufständen, zahlreichen Untergrundbewegungen. Vulkane, die täglich neu aufbrechen können. Anerkennung des Andersseins, des Ganz-Andersseins des Menschen da draußen vor meiner Tür, vor und an meiner Grenze, in Europa, in allen Kontinenten.

Wer nun diese Fülle, die Ballungen, diese explosiven Genengelagen von Konflikten im Heute etwas näher besieht, kann sie aufschlüsseln: in Konflikte, die sich „regeln“ lassen; in Konflikte, die sich „lösen“ lassen, die, konkret,

durch ihre lange Dauer veralten, sich selbst entschärfen: so haben sich die Religionskämpfe, die Europa den ersten großen europäischen Bürgerkrieg bescherten, im Dreißigjährigen Krieg und seiner Vorkriege im 16. Jahrhundert, weitgehend entschärft, weil sie in vielen Ländern gealtert und ver- altert sind, aber jederzeit hier und dort wieder auf flammen können— in heißen Formen, so in Irland, in Formen eines Kalten Krieges, in subtileren Formen des Kampfes, so im heutigen Polen, in denen der polnische Protestantismus „liquidiert“ wird.

Die Test-Situation, in der sich zeigen muß, ob Menschen und Mächte, gegnerische Gruppen, feindliche Staaten miteinander mitten im Gegeneinander leben können, wird durch unlösbare, große Konflikte präsentiert, in denen Mächte und Meinungen, Ideologien und Interessenverbände einander konfrontieren, die ihr ganzes Selbstverständnis, ihre ganze Selbstbehauptung auf ihr totales Anderssein stützen.

Wie kann hier Friede produziert werden? Was kann Friede sein in dieser Welt von Gegnern und Feinden, die bis aufs letzte sich in ihrem geschlossenen Frieden behaupten wollen? Es ist heute noch, leider, leider, unmöglich, Völker, Parteien, Kollektive und die führenden Männer in den Gremien, die Herrschaft, Herrschaftsmacht verkörpern, zu analysieren: einer tiefenpsychologischen Erhellung zuzuführen.

Sowohl die Greise Reagan und Breschnew wie die massiven Männer in den mittleren Generationen, die zur Macht drängen, hüben und drüben, würden sich eine solche „Behandlung“ verbitten, lieber streitėn sie noch hundert Jahre miteinander. Was sie im übrigen auch tun sollen!

Streiten, nicht sich über-töten, mit Atomschlägen! Sich mit dem großen Gegner und den vielen mittleren und kleineren Gegnern als eine Streit-Gemeinschaft verstehen, darleben, in der permanente Konfrontationen, Auseinandersetzungen stattfinden; in denen im Lauf der Jahre, der Jahrzehnte auch die größten Konflikte altern und veraltern!

Wie rasch ist „Marxismus“ gealtert, und veraltert in einigen wenigen Generationen, hat sich aufgelöst in innere Kämpfe zwischen Großkirchen und Sekten — Prozesse, die im Christentum vom zweiten zum zwanzigsten Jahrhundert die Christenheit zu einer permanenten Streitgemeinschaft, zu einem permanenten Bürgerkrieg gemacht haben!

Wer heute Friede will, Friede geben, selbst Friede produzieren will, hat in persönlicher Hygiene, in politischer Hygiene-Arbeit in seiner Partei, Nation, Kirche, Interessenvereinigung dies zu beachten, dies zu achten: Friede ist Leben in Konflikten! Langmütig und zäh, unverdrossen durch tägliche Rückschläge, durch Angriffe unbeirrt, diese Situation wahrnehmen: die großen, sehr großen Spannungen, Gegensätze sind auszuhalten. Sind zu ertragen.

Keine „Endlösung“ anvisieren! Sich ihr auch im Denken, in Wunschträumen, in Wunschängsten (es gibt auch dies!) verwehren! Kein Appeasement! Keine falsche Anempfindung! Und keinen Schlag: Verzicht also auch auf die mörderischen Schlag-Worte!

Die tiefe, aufwühlende Spannung soll zur Mobilmachung, zur Mobilisation nach innen hinein genützt werden: „Not macht erfinderisch.“ Es geht darum, Modelle zu schaffen, die dann Praxis werden können.

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