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Gegenrevolution aus Frankreich

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Frankreich hat die Anarcho-Revolte nur zögernd mitgemacht. Zwar kommen viele ihrer Keime aus französischem Boden, und die „Situationistische Internationale“ — die geistig respektabelste revolutionäre Gruppe, fern vom Vulgärmarxismus der andern — ist in ihren besten Produkten (Guy Debord, Raoul Van-eigem) ein französisches Gewächs. Außerdem waren die Barrikaden vom Mai 1968 ja ein ganz respektables Bukett. Das alles ändert nichts daran, daß Frankreich nie so mitgemacht hat, wie man zwischen Berkeley und Berlin mitmachte. Ein noch vorhandener Fundus an politischer Vernunft, auch eine Portion guten Geschmacks wirkten bremsend. Ähnlich war es ja mit der industriellen Zivilisation, gegen welche sich die Revolte wendet: Die Grundlagen zu ihr wurden in Frankreich gelegt, durchgeführt haben sie andere Länder.

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Frankreich hat die Anarcho-Revolte nur zögernd mitgemacht. Zwar kommen viele ihrer Keime aus französischem Boden, und die „Situationistische Internationale“ — die geistig respektabelste revolutionäre Gruppe, fern vom Vulgärmarxismus der andern — ist in ihren besten Produkten (Guy Debord, Raoul Van-eigem) ein französisches Gewächs. Außerdem waren die Barrikaden vom Mai 1968 ja ein ganz respektables Bukett. Das alles ändert nichts daran, daß Frankreich nie so mitgemacht hat, wie man zwischen Berkeley und Berlin mitmachte. Ein noch vorhandener Fundus an politischer Vernunft, auch eine Portion guten Geschmacks wirkten bremsend. Ähnlich war es ja mit der industriellen Zivilisation, gegen welche sich die Revolte wendet: Die Grundlagen zu ihr wurden in Frankreich gelegt, durchgeführt haben sie andere Länder.

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Kein Wunder, daß aus Frankreich auch die erste Welle einer beachtlichen gagenirevolutionären Literatur kommt. Konservative und rechtsliberale Schriften gegen die Anarcho-Revolte gibt es seit längerer Zeit schon — man denke an Raymond Aron, an Kennan, an Gehlen und Schoeck. Diese Männer hatten schon vor 1967, dem Schlüssele abr, ihre wohlfundierte Skepsis gegenüber der emanzipatorischen Woge. Mit „gegenrevolutionär“ meinen wir eine Literatur, die dieser Woge selbst entsprungen ist, geschrieben von Männern, die eine Zeitlang selbst tüchtig und sichtbar am linken Aufstand teilnahmen. Ihre Schlüsselfigur ist Jean Cau (Jahrgang 1925), der ehemalige Privatsekretär Sartres und Goncourt-Preisträger von 1961; ihr zur Zeit meistdiskutierter Vertreter ist der „Planete“-Herausgeber Louis Pauwels (Jahrgang 1920), ein aus Gent stammender Wahlfranzose. Dessen Schrift „Lettre ouverte aux gens heureux, et qui ont bien raison de l'etre“, zu deutsch „Offener Brief an die glücklichen Menschen,, die zu Recht glücklich sind“, in der Reihe „Lettre ouverte“ des Pariser Verlages Albin Michel (224 Seiten, 15 F) ist in wenigen Wochen zum Bestseller dieser Literatur geworden.

Cau und Pauwels sind typisch für eine Schicht von Schriftstellern, die dem Proletariat entstammen. Pauwels: „Meine Mutter war eine Arbeiterin, die das Haus um fünf Uhr früh verlassen mußte, erst spätabends heimkehrte, nur am Sonntag frei hatte und mit fünfzig Jahren starb.“ Im Winter stopfte sie die dünnen Kleider ihres Sohnes mit Zeitungs-papier aus, damit er auf dem Schulweg nicht erfror. Einem Mann solcher Herkunft muß die penetrante Polemik gegen die „Konsumgesellschaft“ auf die Nerven gehen; in seine Welt sind bezahlter Urlaub und Eisschrank ja noch als freudig begrüßte Gaben eingebrochen. Für ihn ist die Anarcho-Revolte eine Angelegenheit der „verweichlichten Söhnchen“ (,,fils mous“) aus reichen Familien, für die der Komfort von Geburt an eine langweilige Selbstverständlichkeit war.

Gegen die „Schickeria“

Von diesem Ansatzpunkt aus ist klar, wogegen und wofür die Cau, Pauwels und Nicht-Genossen sind. Der Feind ist die „Schickeria“, jene auch bei uns bekannte Vermengung von faktischem Reichtum und theoretischem Revolutionismus. Das positive Gesellschaftsbild aber ist die „societe de gestion“, was sich sinngemäß am ehesten mit „praktischer Gesellschaft“ übersetzen läßt: Die Gesellschaft soll unter strenger Beibehaltung ihres Charakters als einer Leistungsgesellschaft in stetig sich verbessernder Weise die materiellen Lebensgrundlagen für den einzelnen schaffen — den Lebensinhalt muß dieser einzelne sich selber besorgen, das ist nicht Aufgabe der Gesellschaft. Und der Bürger soll sich auch nicht mit der Gesellschaft als Sündenbock entschuldigen können, wenn er dieser „inneren Freiheit“ nicht gewachsen ist. Sie ist keine leichte Aufgabe, aber dem Menschen ist vor keiner kompetenten Stelle eine anstrengungslose

Existenz garantiert worden. Hinzu kommt, daß die Cau-Pau-wels-Gruppe zwei häufige Behauptungen über die moderne Industriegesellschaft als Aberglauben zurückweist. Das eine ist die These von der zunehmenden Monotonie und Öde dieser Gesellschaft — ihr wird entgegenhalten, daß die industrielle Zivilisation im Gegenteil zu immer größerer Differenzierung und Vielfalt führe. Zweitens wird — wenn auch weniger bewußt als bei der Ablehnung der Monotonie-Behauptung — der romantische „Natur“-Begriff der Anarcho-Revolte nicht akzeptiert. Sie sprechen es nicht aus, aber ihre Voraussetzung ist, daß die Welt des Menschen immer künstlich war. Es ist deshalb jeweils Aufgabe des Menschen, sich seine „Natur“ neu zu schaffen.

Am extremsten wird dieser Standort in einem Buch verfochten, das nur am Rande zu dieser Literatur zählt, aber zur Zeit in Frankreich ebenfalls viel Lärm verursacht: „Vive la societe de consommation“ (Es lebe die Konsumgesellschaft!) von Jean Saint-Geous. Saint-Geous, ein Rugby-Spieler und als „Inspektor der Finanzen“ Mitglied einer der exklusivsten französischen Leistungs-Eliten, singt das Lob der Dinge, die Symbole der Konsumgesellschaft sind: Photo, Film, Auto, Fernsehen, Flugzeug, Computer. Im Gegensatz zu uinsern kulturpolitischen Jammersusen glaubt er nicht, daß wir zwischen diesen „objets“ verdorren; vielmehr meint er, daß wir durch sie Kräfte und Werte hinzugewinnen, die wir von der Natur nicht haben. So weit geht Zauwels nicht. Uberhaupt gibt es innerhalb dieser neuen Schule deutliche Differenzen. Beispielsweise setzt Pauwels dem Slogan vom Mai 1948, die Revolution müsse „wiedererfunden“ werden, entgegen, daß die von 1789 ein für allemal genüge: in ihr sei alles Notwendige enthalten. Das kann der wesentlich komplexere

Jean Cau nicht unterschreiben. In einem allerdings sind sich alle diese Schriftsteller einig: Es habe keinen Sinn, sich über die Umwelt zu beklagen, solange der Mensch nicht wisse, welch unendliche Innenwelt sich vor ihm auftue, wenn er sich nur die Mühe nehme, in sie einzudringen. Und was heißt „Umwelt“? Nach Meinung dieser Autoren existiert eine „Kirche des westlichen Pessimismus“ (der Begriff stammt von Chesterton), die rnnt wechselnden Peitschen dem Menschen ein schlechtes Gewissen einzujagen sucht, um ihn zum Verneinen der von ihm erschaffenen Welt zu nötigen und ihn damit von seiner Bestimmung abzubringen, glücklich zu sein. Die Peitsche der Atomfurcht sei nicht mehr so wirksam wie in den fünfziger Jahren. Deshalb habe sich die Kirche des Pessimismus Ersatz-Marterwerkzeuge geschaffen, mit denen sie den Mitmenschen die Welt zu vermiesen suche: so die übertriebenen Vorstellungen van Umweltverschmutzung und Bevölke-rungexplosAom, aber auch die Denunziation der „Konsumwut“, die bereits erwähnte Stilisierung einer „Monotonie“ unserer Welt und nicht zuletzt der „Graben zwischen den Generationen“.

In Sachen „Jugend“ tritt Pauwels wohl in die zahlreichsten Fettnäpfchen. Er macht die zeitübliche Liebedienerei vor der Jugend nicht mit, sondern nennt sie „in mittelalterlichem Geiste befangen“: Sie sei nicht nur heute, sondern stets blind und dumm, zur Flucht in die Gewalttätigkeit neigend, unkritisch, intolerant und emotionell und im übrigen reaktionär (so seien die Rebellen von heute auf die Probleme von 1848 fixiert und nähmen die Moderne nicht zur Kenntnis). Erst die „societe adulte“, die Gesellschaft der Gereiften, sei eine menschenwürdige Gesellschaft — die Gesellschaft „ohne dogmatische Phantasmago-rien, ohne messianische Illusionen, ohne Massenleidenschaften, wo man erst den guten Gebrauch unser selbst erlernt“. Die „Gesellschaft der Anfänger“, in der man „sich als Paria verkleidet“, um die Weltordnung für die eigenen schlechten Noten verantwortlich zu machen, werde, sofern man nicht über sie hinauskomme, die unvermeidliche Beute der „commissaires“ oder der „colo-nels“ sein.

Wir haben hier nur einen Digest eines an Details reichen Buches gegeben. Zu jeder These liefert Pauwels das Anschauungsmaterial. Zur letztgenannten These beispielsweise dieses Gespräch mit einem bekannten superlimken Akademiker: „Dein Linksertum, sagte ich ihm, betreibt ja nur das Geschäft der KP. Sie wird als alleiniger Garant der Ordnung erscheinen und die Macht übernehmen. Willst du das denn?“ — „Gott bewahre! Die militärische und bürokratische Diktatur des Stalinismus!“ — „Gut. Aber angenommen, es kommt dazu — was tust du dann?“ — „Dann haue ich nach Amerika ab!“ — „Du? Und was tust du dann in Amerika?“ — „Ich trete dann dort in die KP ein.“ —

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