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Ideale aus dem Warenhaus

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Die auffallendsten Bauwerke des Mittelalters seien die Kathedralen gewesen, diejenigen der Renaissance die Universitäten, die des Liberalismus die Börsen. Unsere Epoche aber dokumentiere sich am deutlichsten in ihren Warenhäusern, denn sie symbolisieren die Erfüllbarkeit unserer Wünsche, die Zugänglichkeit unserer Paradiese. Diese Behauptung ist einer der zahlreichen Ansatzpunkte des überaus gescheiten und ideenreichen Buches, in dem Wolfgang Kraus die Wertkrise unserer Epoche analysiert: „Zum Freizeitparadies führen Warenhäuser, Urlaube, Fernsehen und Reklame.“ Die Absicht ist klar: der Leser fühle sich beleidigt! Dies vielleicht auch, wenn Kraus behauptet, die starke Präsenz von Sexualität in Werbung, Filmen und Theaterstücken signalisiere einen Mangel an anderen Lebensinhalten.

Wolfgang Kraus, der in der „verratenen Anbetung“ einen Grund für das tiefe Unbehagen unserer Epoche erblickt, ist als Leiter der österreichischen Gesellschaft für Literatur und der kulturellen Kontaktstelle des Außenministeriums in Wien berufstätig. Er ist vor allem ein großer Ostreisender und hat in erster Linie die geistige Welt der COME-CON-Staaten durch vielfältige, vor allem literarische Kontakte kennen gelernt. Seine bisherigen Bücher waren Niederschlag dieser Forschungsreisen in den roten Kontinent: „Der fünfte Stand“, „Die stillen Revolutionäre“ sowie „Kultur und Macht“. So ist es durchaus logisch, wenn eine Untersuchung über den Wertverfall der heutigen Welt bei ihm in einen Vergleich zwischen West und Ost mündet.

Er zitiert in diesem Zusammenhang Popper: „Der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, produziert stets die Hölle.“ Die Sowjetparadiese mit ihren Schauprozessen und Menschenrechtsverletzungen bieten ebenso anschauliches Material wie die Massenvernichtungen im Dritten Reich. Sehr gedankenreich führt Kraus den russischen Kommunismus (teilweise Berdjajew folgend) auf eine religiöse Quelle zurück. Nicht nur die krichenartige Gliederung mit ihren Dogmen und Häretikerverfolgungen legt dies nahe, auch eine Vergangenheit, bei der 1905 noch Popen die Aufständischen anführten.

Wie unterschiedlich Moden in West und Ost das Bewußtsein manipulieren, zeigt Kraus an einem Gedankenexperiment: undenkbar, daß etwa in Moskau eine Dissidentenmode entstehen könnte mit Solschenizyn-Posters oder Protestsongs in Massenauflage.

Kraus hat sein Buch aus christlicher Sicht geschrieben. Man mag einwenden, daß er dabei den Wertverfall übersehen hat, den es auch in unseren Kirchen gibt. Aus seiner Darstellung spricht die optimistische Erwartung, daß unsere Epoche wieder reif werde für das Akzeptieren von Werten - er stellt sogar eine Wertskala auf, die von materiellen Zielen wie Gesundheit und Nahrung bis zu Erkenntnis und Schau reicht. Die „verratene Anbetung“ ist ein leerer Punkt in unserem Weltsystem, und er meint, Sache des Westens müsse es sein, der „Volksdemokratie“ eine „Wertdemokratie“ gegenüberzustellen. Der Gedankenreichtum des Buches kann hier nur in Stichworten angedeutet werden. Es stellt einen nicht nur gescheiten, sondern auch gut lesbaren Beitrag zur Wertkritik unserer Kultur dar.

DIE VERRATENE ANBETUNG. Von Wolfgang Kraus; Piper-Verlag, München, 1978, öS 189,60.

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