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Industrieleichen und Zivilisationskrüppel

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Es besteht aller Grund zur Panik: 1969 schluckten wir 103.000 Tonnen Asche, Staub und Buß, atmeten 260.000 Tonnen Schwefeldioxyd; Fetisch Kraftfahrzeug blies uns 265.000 Tonnen Kohlenmonoxyd, 11.000 Tonnen Stickoxyde und 4000 Tonnen Kohlenwasserstoffe in die Lungen. Bleiverbindungen — als Antiklopfmittel dem Treibstoff beigegeben — vergiften landwirtschaftliche Produkte, die entlang der 11.000 Kilometer Bundesstraßen Österreichs sprießen. Obst und Gemüse, das überdies von 6000 bis 7000 Tonnen Pflanzenchutzmittel pro Jahr besprüht wird, das und noch mehr offenbart uns der Bericht des Sozialministeriums, der endlich vorliegt.

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Es besteht aller Grund zur Panik: 1969 schluckten wir 103.000 Tonnen Asche, Staub und Buß, atmeten 260.000 Tonnen Schwefeldioxyd; Fetisch Kraftfahrzeug blies uns 265.000 Tonnen Kohlenmonoxyd, 11.000 Tonnen Stickoxyde und 4000 Tonnen Kohlenwasserstoffe in die Lungen. Bleiverbindungen — als Antiklopfmittel dem Treibstoff beigegeben — vergiften landwirtschaftliche Produkte, die entlang der 11.000 Kilometer Bundesstraßen Österreichs sprießen. Obst und Gemüse, das überdies von 6000 bis 7000 Tonnen Pflanzenchutzmittel pro Jahr besprüht wird, das und noch mehr offenbart uns der Bericht des Sozialministeriums, der endlich vorliegt.

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Auch das vielbesungene (und immer knappere) Hochquellenwasser, auf das sich der Wiener einst, vom Urlaub zurückkehrend, freute, ist gefährdet: Die Schutzgebiete werden versiedelt und die Industrialisierung nimmt wenig Rücksicht auf natürliche Grundwasservorkommen.

Senkgruben und Düngenstätten, Kanäle und versickernde Abwässer lassen unterirdische Kloaken entstehen. Tankstellen und Campingplätze, Ölheizungen und Motorboote verpesten Badeseen; die Industrie pumpt Abwässer, Siedler verhüttein die Ufer. Vorerst verenden die Fische.

Und der Lärm ist allgegenwärtig. „Frisierte“ Motoren und sportliche Auspuffe, rangierende Straßenbahnzüge, Planierraupen und Preßlufthämmer und letztlich der durch mangelnde Schallisolation zur Qual werdende Wohnlärm lassen eine ruhige, weil taube Zukunft erwarten.

Die Beseitigung aufwendiger Verpackungsmaterialien und der Rückstände von Mineralölprodukten, kurz die Müllvernichtung wurde längst zum Problem. Nur 28 Prozent der österreichischen Städte und Gemeinden sind mit einer Müllabfuhr ausgestattet, dreiviertel der Orte lagern ihren Müll (wohin?), 23 Prozent deponieren ihn geordnet, und nur 0,5 Prozent verfügen über Verbrennungsanlagen. Kunststoffe freilich sind nicht so leicht zu eliminieren. Polyvinylchlorid (PVC) zum Beispiel ist gefährlich, weil es — wird es verbrannt — Chlorwasserstoffgas freisetzt und dieses, mit Wasser angereichert, Salzsäure ergibt, die korrodierend auf Metalle aller Art wirkt. Tröstlich, daß PVC bis jetzt nur 1 Prozent des Mülls ausmacht.

1961, so erfahren wir, lag Österreich mit 110 Quadratkilometer Rauchschadenflächen an fünfter Stelle der mitteleuropäischen Länder. Heute ist die Schädigung ungefähr dreimal so groß, so daß etwa 1 Prozent der forstwirtschaftlich genutzten Flächen zerstört ist.

„Schaut ringsumher, wohin der Blick sich wendet, lacht’s wie dem Bräutigam die Braut entgegen“ — Grillparzers Biedermeier ist längst dahin. Aber wie sollen die auf- gestauten und durch mangelnde Weitsicht potenzierten Probleme gelöst werden? Durch gesetzliche Bestimmungen, durch gewerberechtliche Vorschriften, die Lärm und Gestank produzierende Hinterhofbetriebe beseitigen, durch exakte Toleranzgrenzen für Abgase und Schwefel, durch Filter- oder Kläranlagen? Oder durch Expropriation der Lärmer und Stinker? Also jena neue Form des Klassenkampfes, den gerade diejenigen, die seit der Jahrhundertwende die Kammunalver- waltung verplanen, und uns auch heute schon die Slums von morgen bauen, propagieren?

Man wird den Marginaluntemeh- mer, den an der Rentabilitätsgrenze Produzierenden zwingen müssen, seine Rationalisierungsmaßnahmen nicht auf Filter- und Kläranlagen auszudehnen. Denn er wird weiterhin nur an bestimmten Tagen und bei günstigem Wind seine Abfälle verbrennen wollen, weiterhin seinen Lärm an der Toleranzgrenze einpendeln lassen. Aber mit neuen Formen des Klassenkampfes wird man keinen Erfolg haben.

Man sollte das vor allem der der zeitigen Regierung sagen, die zwar nunmehr einen Bericht über den Ist-Zustand der Umweltverschmutzung vorgelegt hat, aber noch kein Rezept für den Weg zum Soll-Zustand anbietet. Denn allzu leicht könnte man in der Linken gerade das als passable Imitationsmuster wünschen, was anderswo tatsächlich ernsthaft propagiert wird: etwa die drastische Verfügungsbeschränkung von Grund und Boden, die sich verschämt schon im Regierungsentwurf für ein Assanierungsgesetz andeutet, die Veränderung von Bauordnungen, um den Trend zum Einfamilienhaus zu stoppen, die Überwälzung aller Kosten für die Filter, Kläranlagen und Abgasreiniger usw. auf den Privatunternehmer.

Anderswo: das heißt vor allem in Deutschland, wo unter dem Geklat- sche einer Neuen Linken die Alte Linke Nervosität zeigt. Kurzum: wo Umweltschutz dazu benützt werden soll, gesellschaftsverändemde Prozesse einzuleiten.

Gesellschaftsveränderung? Jawohl. Die Städte sind offenbar reif dazu.

Auch in Österreich?

Natürlich nicht. Noch nicht. Aber man kann nur sagen: wehret allen Anfängen.

Was nicht heißen soll, daß ein Ministerium (nach hoffentlich endgültiger Kompetenzenklärung in der Regierung) endlich Empfehlungen ausarbeitet wie dem Problem vernünftig beizukommen ist.

Der erste Schritt — wir können hier nur Vorschläge machen — wäre eine Bestandsaufnahme der technischen Möglichkeiten, die in aller Welt schon gegen Rauch, Gift und Lärm angewandt werden. Dann müßte man zu einer Kostenrechnung kommen, was uns in den nächsten 20 Jahren erwartet. Der dritte Schritt würde in einem Prioritätenkatalog bestehen, wann und wo angesetzt werden muß.

Ist das alles klar, kann über die rechtliche Bewältigung gesprochen werden. Aber vielleicht kommt man darauf, daß sowieso schon allerlei legistische Möglichkeiten bestehen, Schutzeinrichtungen zu erzwingen? Wie wär’s mit einer Überprüfung, ob die bestehenden Vorschriften auch tatsächlich eingehalten werden?

Und daß der Umweltschutz zwar durch Regierungserklärungen geistert, Rundfunkkampagnen auslöst und je nach Bedarf gegen Raffinerien, Atomkraftwerke, Seebrücken bemüht wird, zeigt zwar überall Ambition, aber noch keine Ansätze zur Klärung der Zuständigkeit zwischen Bund, Ländern und Gemeinden.

Man kann mit dem vitalen Interesse der Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang rechnen. Öffentlichkeit — das sind auch die Ver- schmutzer und Verseucher selbst. Denn wer will in den nächsten Jahren nur die Wahl zwischen einer Industrieleiche und einem Zivilisationskrüppel haben?

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