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Kein letztes Gefecht

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Der Autor Nicola Chiaromcnti gestorben 1972, hat auf 173 Seiten die Tragödie des Lebens eines Linksintellektuellen seiner Generation zusammengeschrieben. Als Zehnjähriger erlebte er den von der politischen Linken Italiens enthusiastisch begrüßten Eintritt seines Landes in den Ersten Weltkrieg. Sein Pilosophie- und Literaturstudium, sowie die Beschäftigung mit Film und Theater, fiel in die Zeit der Erfolgsära Mussolinis, dessen „geweihtes Banner“ eines nicht „gewöhnlichen Sozialisten“ Georges Sorel 1913 vorahnend begrüßt hatte. Erst 1934 verließ Chiaromonte Italien, um in Paris zu der in Gründung begriffenen Volksfront der Sozialdemokraten (Leon Blum), Liberalen (Edouard Daladier) und Kommunisten (Maurice Thorez) zu stoßen. Folgerichtig machte Chiaromonte das Volksfrontexperiment in Spanien (1936/39) in den Reihen der Roten mit. Das Ende in Spanien und

die Überschwemmung Europas durch Hitlerismus vertrieben ihn in die USA. Dort mußte der europamüde Linksintellektuelle erleben, wie in der Ära nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg der Geist fortan nicht mehr links stand, wo er, auch in den USA, während der dreißiger Jahre gestanden hatte. Noch vor dem Aufbruch der New Left in den USA kehrte Chiaromonte nach Italien zurück, wo er in einer liberalen Wochenschrift Theaterkritiken schrieb, um in den letzten Jahren seines Lebens, zusammen mit dem längst aus der Kommunistischen Partei Italiens ausgetretenen Gründer dieser Partei, Ignazio Silone, selbst ein zeitkritisches Magazin herauszugeben. So ist das Lebensschicksal Nicola Chiaromontes typisch für die heutige Malaise vieler Linksintellektueller unserer Tage: nach dem enttäuschenden Versuch einer Solidarisierung des Liberalismus mit der linken Linken ein Verdämmern mit Meditationen über ein unerklärliches Paradoxon der Geschichte.

Das Unerklärliche fing nach Chiaromonte an, als 1914 die Sozialisten aller Länder nicht den Krieg verhinderten, sondern begeistert mit ins Feld zogen. Und da die Formel des Sozialismus, wonach sein Sieg im „letzten Gefecht“ zugleich der Sieg der Friedensidee sein soll, zumal in der neuesten Zeit nicht stimmt, möchte Chiaromonte das Wesen des Krieges an Hand einiger der bedeutendsten literarischen Aussagen der Weltliteratur analysieren und das Unerklärliche faßbar machen.

Er geht aus von dem Blick auf das Schlachtfeld von Waterloo, den der Beamte des napoleonischen Kriegsministeriums Stendhal dem Helden seiner „Kartause von Parma“ eröffnet. Tolstois „Krieg und Frieden“ scheint einen Kern des Themas zu enthalten. Und für die Katastrophe von 1914 ist offenbar die Aussage des mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Werkes von Roger Martin du Gard in „Sommer 1914“ zumal deswegen zur Sache gehörig, weil hier der bewußt unternommene Versuch gezeigt wird, die „bürgerlich-llbe-

,rale Gesellschaft zu zerstören und eine vernünftige, auf Nietzsche und Marx fußende Ordnung zu errichten“. An diesem Punkt der Analyse wird der Bruch der inneren Entwicklung des Liberalen sichtbar. Ein Sinneswandel, für dessen selbstzerstörende Wirkung der Autor Trost sucht bei Andre Malraux, der 1936 zusammen mit ihm Frontkämpfer für Rotspanien gewesen ist und der 20 Jahre nachher sein Finale als Compagnon de Gaulies erlebte. Chiaromonte blieb es erspart, die für ihn lesbare Übersetzung von Alexander Solschenizyns „August 1914“ zu Gesicht zu bekommen. So konnte es ihm scheinen, als würde Pasternak ihm noch Trost bieten bei seiner Absage an den falschen Glauben unserer Zeit. Denn: „Unser Zeitalter ist weder eines des Glaubens noch eines des Unglaubens“ (S. 160). Nach Chiaromonte hat die europäische Gesellschaft seit dem 2. August 1914, dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in einem „Zustand falschen Glaubens“ gelebt. Dieses Zeugnis eines unversöhnt verstorbenen Linksintellektuellen, abgegeben im „Zeitalter des Sozialismus“, ist zweifellos bemerkenswert, da aus dem Umgang mit der Linken bezogen. Indessen: Chiaromonte wird zuletzt auch in bezug auf den Liberalismus ungläubig, etwa wenn er einbekennt, der Glaube an den Fortschritt werde oft zu Unrecht dem Glauben an Vernunft und Wissenschaft gleichgesetzt. Der Glaube erlosch, und das ist die

Ultima ratio Chiaromontes, als der Glaube an den Sozialismus oder an eine authentische Demokratie zusammenbrach, als der Sozialist, mit dem Faktum des Krieges konfrontiert, sich der „Notwendigkeit beugte“. Diese Aussage Chiaromontes darf ergänzt und inhaltlich bereichert werden: Noch nie gab es auf dieser Welt so viele menschenraubende und kräftezerstörende Kriege wie in der Ära des Sozialismus, der sich, im Gegensatz zu 1914, jetzt, im Jahre lr~3, nicht nur der „Notwendigkeit des Krieges beugt“, sondern die militärische Gewalt für sich reklamiert, wo er sie für den ihm gemäßen Zustand der gesellschaftlichen Ordnung braucht.

Nach Chiaromonte ist die jüdischchristliche Weltanschauung zuerst zweifelhaft und dann wirkungslos geworden. Dem ist in der Hinsicht beizupflichten, daß glaubenslos gewordene Juden und Christen die meisten jener Bataillone angeführt haben, die zur Zerstörung einer Kultur ins Feld geführt wurden, deren Krise Chiaromonte in dem vorliegenden Buch oft ergreifend beschreibt.

Der Katholik, in seinem jetzigen Konvivium mit Liberalismus und Marxismus zuweilen von Unsicherheit und Zweifel befallen, wird in dem Bekenntnis Chiaromontes vor allem jene gefährlichen Tangential-punkte wahrnehmen, an denen er zwar seinen Glauben verlieren, aber als Ersatz nicht einmal Unglauben einhandeln kann.

DAS PARADOX DER GESCHICHTE. Von Nicola Chiaromonte. Zur Krise des modernen Bewußtseins. Europaverlag, Wien 1973, 175 Seiten.

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