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Keine Illusionen über Nobelpreise

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In jener Stunde am 21. Oktober, . als der Sekretär der Nobelstiftung, Dr. h. c. Karl Ragnar Gierow, offensichtlich verlegen und fast stotternd, den Pressevertretern mitteilte, daß die königlich-schwedische Akademie beschlossen habe, den Literatur-Nobelpreis jenem Amerikaner zuzusprechen, den die gesamte schwedische Presse schon seit drei Tagen als den nächsten Preisträger feierte, wurde jedem Zuhörer klar, daß die berühmte Institution sozusagen an einem Endpunkt angelangt ist. Von jetzt und von hier an wird die Akademie einen neuen Weg einschlagen müssen. Man denkt dabei gar nicht an die Person des heurigen Literaturpreisträgers, an den aus einer russisch-jüdischen Familie stammenden Saul Bellow, — es hat fürwahr schlechtere Entscheidungen der Akademie gegeben als diese! — sondern an die ländermäßige Verteilung der Preise. Der Kampf um die Nobelpreise ist längst zu einem Wettstreit der Nationen geworden. Es fehlen nicht einmal mehr die Fanfarenstöße und das feierliche Hissen der Nationalflaggen. Die geniale Leistung einzelner scheint immer weniger zu bedeuten, das Gewicht der Großmächte und ihrer über unbegrenzte Mittel verfügenden Institute wissenschaftlicher und kultureller Art immer mehr. Wie sollen sich kleine Länder, wie etwa Österreich oder die Schweiz, mit jenen Forschungsgiganten messen können, die etwa den Nordamerikanern zur Verfügung stehen? Das rein materielle Übergewicht ist die eine Ursache der immer einseitiger werdenden Preisverteilungen. Eine weitere Ursache ist zweifellos der überragende politische Einfluß der Großmächte, der über tausend Kanäle jene Institute infiltriert, die über die Preisverteilung .zu befinden haben. Auch schwedische Wissenschaftler und Koryphäen des kulturellen Lebens, die von ihrer eigenen Objektivität felsenfest überzeugt sind, können sich in Wirklichkeit den Einwirkungen einer allgegenwärtigen Machtausstrahlung nicht entziehen.

Ist es noch einigermaßen einleuchtend, daß die physikalische Forschung ohne hochleistungsfähige — und entsprechend teure! — Anlagen heute nicht mehr möglich ist, dann trifft das auf die Forschungsinstitute für Chemie schon weniger zu und noch weniger auf jene für Physiologie und Medizin (weil hier vor allem auch die praktische Medizin eine Rolle spielt, oder besser spielen sollte).

Auch daß der Wert literarischer Leistungen und ökonomischer Theorien von der Größe des Landes, in dem sie entstehen, abhängen sollte, kann kaum angenommen werden. Faßt man aber das Ergebnis der Entscheidungen aller Nobelkomitees zusammen, dann ergibt sich für die Zeit von 1965 bis 1976 ein überwältigender amerikanischer Überhang, und dementsprechend für alle anderen Nationen der Welt ein bedrük-kendes Ergebnis. Von den in diesem Zeitraum verteilten Preisen fielen 45 an die USA, 14 an Großbritannien, sechs an Schweden, je fünf an Deutschland und Frankreich, und der Rest von 24 Preisen verteilte sich auf 16 Nationen.

Die Schlüsse, die daraus zu ziehen sind, ergeben sich eigentlich von selbst. Die kleineren Nationen sollten sich heute damit abfinden, daß weder der Beachtung durch die Nobelkomitees noch der dort geübten Nichtbeachtung jener Wert beigemessen werden kann, den dies in den ersten vier Jahrzehnten dieses Jahrhunderts noch hatte. Es gibt sowohl Schweden, wie auch Amerikaner, die sich darüber keinen Illusionen mehr hingeben. Das jüngste Zeugnis dafür lieferte gerade jener Saul Bellow, der nach der Nachricht von der Zu-erkennüng des Literaturpreises zu einem schwedischen Berichterstatter sagte, er wisse nicht, ob er für diese Ehrung Dankbarkeit zeigen oder in helles Gelächter ausbrechen solle. Es habe noch keinen Amerikaner gegeben, dem dieser Preis gutgetan habe. Sinclair Lewis und John Steinbeck hätten nachher kaum mehr eine nüchterne Stunde gehabt, Hemingway habe keine vernünftige Zeile mehr geschrieben ...

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