6802572-1971_42_05.jpg
Digital In Arbeit

Mit eigenen Augen

Werbung
Werbung
Werbung

Reiter, die in alten Zeiten mit halsbrecherischer Geschwindigkeit übers Land galoppierten, riskierten damit zumeist nur den eigenen Hals, kaum je den von anderen Leuten. Nicht so heute ein Autolenker. Ein einzelner von ihnen ist imstande, den Aufeinanderprall von 200 (zweihundert) hintereinander- und entgegenkommenden Vehikeln und damit den Tod von 10 (zehn) Menschen sowie schwere Verletzungen von 60 (sechzig) weiteren zu verursachen. Das geschah unlängst auf einer englischen Autobahn und geschieht mit wechselndem Umfang, doch mit zunehmender Häufigkeit auch bei uns. Derlei kann und soll man nicht mehr als „Unfälle“ bezeichnen — wie überhaupt nicht die meisten Autounfälle. Sie werden nur selten durch das Versagen des Autos und Materials, sondern vor allem durch die Lenker verursacht. Die hierfür neuerdings gern gebrauchte Bezeichnung lautet: „Infolge menschlichen Versagens“ — so, als ob es jedem passieren könnte. Und das ist eben nicht wahr. Niemand wird gezwungen, mit seiner menschlichen Unzulänglichkeit in ein Auto zu steigen und, wenn er es schon tut, mit einer Geschwindigkeit zu rasen, bei der er bei der geringsten Gelegenheit die Herrschaft über das Fahrzeug und über seine Sicherheit verlieren muß. Der durchschnittliche Amateurfahrer überfordert sich und die übrigen Fahrer einfach allein schon dadurch, daß er fährt. Und zwar ist er dem nicht so sehr physisch als psychisch und moralisch nicht gewachsen. Der Berufsfahrer empfängt die nötige Einstellung bereits aus dem Umstand, daß es sich nicht lohnt, wegen ein paar hundert Schilling Wochenlohn unnötige Risken einzugehen. Nicht so der Amateur. Er erliegt gern dem Gefühl, mit übermenschlichen Kräften über Zeit und Raum ausgestattet zu sein. Des weiteren ist das Auto für manchen das letzte Refugium, in dem er ganz auf sich gestellt und frei von Kontrolle und Hemmnis durch die Gesellschaft zu sein glaubt. Dabei sich gehen lassen zu können, scheint in der Tat über die natürliche Furcht vor Tod und Verstümmelung zu obsiegen. Der Fatalismus, mit dem der durchschnittliche Autofahrer das heute immer größer werdende Risiko, anstatt am Fahrtziel in einer Totenkammer zu landen, auf sich nimmt, ist nur mit der Ergebung zu vergleichen, mit der Soldaten früher in den Krieg gezogen sind. (Dieselben jungen Leute, die sich heute gegen letzteres so verzweifelt wehren, haben nichts dagegen, sich der Bedrohung durch die eigene „Unzulänglichkeit“ — will heißen Aggressionslust •— oder der Irgend eines anderen ihnen entgegenrasenden Narren au szu setzen.)

Die Jurisprudenz ist nicht prudent, wenn sie neuerdings glaubt, Verkehrsvergehen wegen der großen Zahl der sie begehenden „entkriminalisieren" zu müssen. Daß es so viele gibt, welche das Leben im Grunde so sinnlos gefährden, macht die Sache nicht weniger kriminell. Ich plädiere dafür, daß die Lenker auf ihren Charakter und darauf untersucht und geprüft werden, ob sie imstande sind, sich menschlich, und nicht wie Amokläufer zu verhalten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung