7037865-1990_04_12.jpg
Digital In Arbeit

Psychogramm eines Ideals

19451960198020002020

Wenn Theologen-Bücher in aller Munde sind, bedeutet das meist zweierlei: Für die einen hat der Autor ins Schwarze getroffen, für die anderen ist es zum Aus-der-Haut-Fahren.

19451960198020002020

Wenn Theologen-Bücher in aller Munde sind, bedeutet das meist zweierlei: Für die einen hat der Autor ins Schwarze getroffen, für die anderen ist es zum Aus-der-Haut-Fahren.

Werbung
Werbung
Werbung

Es kommt nicht allzu häufig vor, daß der Name eines Theologen derart medienpräsent die Aufmerk­samkeit einer breiten, theologi­schen Fragen eher reserviert ge­genüberstehenden Öffentlichkeit erregt: der in Paderborn lehrende und analytisch praktizierende Seel­sorger Eugen Drewermann gehört zu dieser erlesenen Schar.

Nun trifft er in jeder Hinsicht ins Schwarze - sein Buch über die „Kleriker" verspricht das „Psycho­gramm eines Ideals". „Wozu eine psychoanalytische Studie über Kleriker?" (23) erläutert er „Vor­haben und Verfahren" (nicht nur im I. Teil, 21-39). Glaubhaft wird auch im umfangreichen II. Teil (Der Befund, 41-654), daß er niemanden beleidigen, heruntermachen oder gar verurteilen will.

Im Gegenteil: Wer immer das Buch liest und vor Ingrimm über das Geschriebene aus der Haut zu fahren droht, möge bedenken, daß es Drewermann tatsächlich um Seelsorge an den unleugbar*vielen Menschen geht, Klerikern (dazu gehören auch die Nonnen) und Laien, die unter der Decke ihrer gelebten Religiosität oft schwere neurotische Störungen verbergen, die sich nicht selten in einer Krank­heit äußern. Ihnen möchte er hel­fen, indem durch Aufklärung ein Nachreifungsprozeß angeregt wird.

Dazu untersucht er das Ideal selbst, das zum Kleriker-Sein, zur „Berufung" führt, und hier sticht er in ein ausgereiftes Wespennest. Bevor er im Hauptteil den „Befund" entfaltet, diskutiert er die wesent­lichsten Einwände gegen sein Vor­gehen (43 ff.).

Zunächst zeichnet er meisterhaft „die ontologische Verunsicherung" des zukünftigen Klerikers nach (47-268), die in einer „Existenz von Amts wegen" gipfelt. Der Kleriker ist als Mensch nichts und erst als Erwählter alles - er ist „entfremde­tes Sein" (96 ff.) aufgrund der „Hierarchisierung" des kirchlichen Lebens und der „Entwertung des Glaubens zu einer erfahrungslosen Lehre" (117 ff.). Als Kontaktform bleibt dann die „Rolle", der er die Strukturierung seines Lebens ver­dankt - von der Kleidung über das Gebet, den Eid, den Dienst bis zu den Freundschaften (225 ff.). Wie es denen ergeht, die ihre Rolle nicht mehr spielen wollen und können, erfährt nicht nur der Kleriker vom (höchsten) Klerus, sondern auch der Laie von den Laien: der Mensch „hinter" dem Kleriker ist oft völlig bedeutungslos.

Im zweiten Teil des „Befundes" untersucht er die „Bedingungen der Auserwählung" (269-654). Den psychogenetischen Hintergrund ortet der Autor in einer „primären Rollenzuweisung" in der Familie, etwa im frühkindlichen Ursprung der klerikalen Opferideologie, in Überforderung und Verantwor­tung, im Rettersyndrom und ande­rem. Wirklich brisant und für wahrscheinlich allzuviele provo­kant mag seine „Antriebspsycholo­gie der evangelischen Räte" (340 ff.) sein.

Ausgehend vom Phänomen der „Funktionalisierung" des Ideals (345 ff.), das heißt seiner totalen Veräußerlichung und der theologi­schen Ideologisierung durch Ab­trennung von der Psyche des kon­kreten Menschen, der diese Ideale leben soll (357 u. o.), gelangt Dre­wermann zu einer Beschreibung der traditionellen „evangelischen Räte", die er entwicklungspsycho­logisch korreliert: in der Armut offenbarten sich Konflikte der Oralität (369 ff.), im Gehorsam sol­che der Analität (426 ff.), in der Ehelosigkeit solche der ödipalen Sexualität (480 ff.).

Im III. Teil wird eine Therapie unter der selbst höchst fragwürdi­gen Devise vorgeschlagen: „Von der Aporetik zur Apologetik der evan­gelischen Räte" (655-750). An die­sem Leitfaden fragt er nach dem Erlösenden am Christentum (657 ff.), um mit unzeitgemäßen Betrach­tungen über die Ausbildung von Klerikern (730 ff.) zu schließen.

Die zum Teil umfangreichen Anmerkungen (751-858) wurden nicht als Fußnoten am Seitenende, sondern dem Text nachgestellt, was die Lektüre durch dauerndes Blät­tern erschwert. Die zitierte Litera­tur - in neun Kategorien unterteilt - läßt den Band auf genau 900 Sei­ten schwellen. Trotz des beengten Raumes dürfen zumindest einige Hinweise zu einer kritischen Wür­digung nicht fehlen.

Vieles an Drewermanns Analy­sen, und nicht einmal die rein psy­choanalytischen Passagen, liest sich hinreißend und bestechend: So etwa die lückenlose Ableitung des Ge-horsamsgebots und des Eides auf den Papst (!) aus imperialen und universalistischen Vorstellungen des altrömisch-byzantinischen Reiches, wenn Ende des 11. Jahr­hunderts (!) aus dem Stellvertreter Petri ein „Vicarius Christi" gewor­den und bis heute geblieben ist.

Andere Bezüge und Argumente wollen nicht so leicht einleuchten, wie ein besonders frappierendes Beispiel aus der Einleitung zum, Kapitel über die Armut: Ohne Zögern wird der „Wohlstand der westlichen kapitalistischen' Län­der. .. im wesentlichen den Umwäl­zungen der Industrialisierung" zu­geschrieben, die ihrerseits „nicht denkbar gewesen wären ohne den ... Gewerbefleiß des theologisch so oft verachteten Bürgertums" (358).

„Mit ganzer Kraft zurück"

Bei der Menge an Druckerschwär­ze wäre wohl auch noch ein Wort über koloniale, spät- und neokolo­niale Strukturen der Weltwirtschaft als einer Ursache für den Reichtum dieser Länder und die Armut der sogenannten Dritten Welt am Platz gewesen, zumal diese Auslassun­gen - denn viele angeführte Zitate ersetzen nicht das Argument - noch dazu im Zusammenhang der Dis­kussion einer Option für die Armen in Lateinamerika stehen, was ein solches „Versehen" dem Zynismus naherückt.

Ebensowenig ist einsehbar, war­um die evangelischen Räte einer Apologetik, also ihrer Verteidigung bedürfen: Wenn die Forderung, die sich hinter dem Ideal gebieterisch verbirgt, auf die zugrundeliegende ursprüngliche Erfahrung von Ar­mut, Gehorsam und Liebe zurück­geführt wird, dann zeigt sich das Erlösende des Christentums. Ob es aber mit „einer Zärtlichkeit, die Träume weckt, und einer Liebe, die Wege weist" (708 ff.) getan ist?

Einer Liebe, bar jeder Geschicht­lichkeit, losgelöst von der sozialen und politischen Situation, ganz zugeschnitten auf die individuelle Psyche und ihre Befreiung, ihr Ganz- und Heilsein, oder mit des Autors Worten: auf „die wesentli­che Subjektivität des Glaubens" (744 ff.). Wenn diese und „die ver­lorene Mystik der Natur" (731 ff.) den propagierten „Wendepunkt der Religionsgeschichte" (so ein Titel, 730) darstellen sollen, dann ent­spricht das Ergebnis dem Sarkas-mus: „Mit ganzer Kraft zurück."

Insofern betreibt Herr Drewer­mann genau das Geschäft derer, die er mit gutem Recht so vehement be­kämpft: Nur löst er die gesellschaft­liche und kirchliche Verf aßtheit des Glaubens nicht von der objektiven, juridischen, machtpolitischen Sei­te her auf, sondern von der subjek­tiven, verinnerlichten, psychischen. Beide treffen im rigorosen Biblizis-mus und in ihrer ungeschichtlichen Unduldsamkeit veränderten Situa­tionen gegenüber zusammen.

Abschließend halte ich aber fest:

1. Drewermanns Buch ist - bei aller Kritik im Detail - aufs Ganze gesehen, eine ausgezeichnete und höchst notwendige Analyse eines Kernproblems der gegenwärtigen Kirche. Die Krise des Klerus ist eine Krise der Kirche.

2. Wer immer diese Krise beim Namen nennt, hat das Recht, ge­hört zu werden, ob es den Betroffe­nen gefällt oder nicht. Die Immuni­sierung gegen Kritik durch Aus­sonderung des Kritikers - in be­stimmten Systemen bis vor kurzem üblich - kann nicht der Umgang unter Christen sein. Sonst ist dieses System nicht besser als das von der Kirche so bekämpfte und verachte­te des zynischen, in jeder Hinsicht gescheiterten Kommunismus.

3. Die einzig mögliche Antwort in der von Drewermann angerührten Sache kann nur sein: Das Tabu muß über Bord, über diese Probleme muß endlich offen und frei geredet wer­den können, ohne daß Kontrahen­ten einander als Ketzer verdächti­gen. Dialog statt Verurteilung, Offenheit statt Scheuklappen.

KLERIKER. Psychogramm eines Ideals. Von Eugen Drewermann. Verlag Walter, Olten-Frei-burg/Br. 1989. 900 Seiten, Ln., öS 538,20

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung