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So macht Hirn Welt

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Ist es ein Zufall, daß einem ein Musikstück besser gefällt, je öfter man es hört? (Und daher beim ersten Mal oft gar nicht?) Es ist keiner. Denn die Freude an der Musik besteht vermutlich darin, daß in jedem von uns eine Erwartungshaltung besteht: Wir prophezeien uns, welche Töne als nächste kommen, und die Genugtuung über richtige Voraussagen ist die Freude an der Musik!

Ähnlich geht es uns beim Sehen, besser: Schauen, Hinschauen. Wir haben bestimmte Wahrneh-

mungserwartungen, die durch das Hinschauen bestätigt, aber auch widerlegt werden können.

Das Hirn nimmt keineswegs alle vom Sinnesorgan Auge gelieferten Reize, sondern nur sehr charakteristische Merkmale („distinctive features”) auf und vergleicht sie mit vorgegebenen Vorstellungen: Linksscheitel, knappes schwarzes Bärtchen genügt für die Identifizierung: Adolf Hitler. Kleiner Mann mit einer Hand am Revers, zweiter am Rücken: Napoleon. Schlitzauge: Chinese.

Diese wissenschaftlich ermittelten Fakten bringen eine Theorie zum Einsturz, die naheliegt: daß nämlich unser Gehirn eine Art Kübel ist, in den Seh-, Hör-, Tast-, Riechsinn viele Eindrücke hineinschaufeln, die dort gewissermaßen zu einem „Weltbild” geordnet werden. Das Umgekehrte ist der Fall: Unser Gehirn schafft die Umwelt, die wir wahrnehmen!

Uber dieses aufregende Thema sprach Franz Kreuzer mit dem Neurophysiologen Hellmuth Pet- sche von der Universität Wien und dem aus Wien gebürtigen, wissenschaftlich nach London verschlagenen Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich. Der darüber nun erschienene Band enthält auch Festvorträge, die Ernst Poppel, Hans Marko und Detlev Ploog beim Salzburger Musikgespräch 1983 zu Karajans 75. Geburtstag hielten.

Marko und Ploog stimmen in der Freude-an-Musik-Theorie überein. Marko hat nun auch eine Informations- bzw. Kommunikationstheorie parat, die in verblüffender Weise das „Prinzip der selektiven Wahrnehmung” von der Natur des Menschen her bestätigt (obwohl in seinem Vortrag diese Querverbindung nicht erwähnt wird).

Kommunikationswissenschafter fanden vor Jahrzehnten schon, daß der Mensch sich aus der Fülle des Informationsangebots vor allem das merkt, was vorhandene Urteile oder Vorurteile bestätigt oder ihnen diametral widerspricht. Das ist der Hauptgrund, warum man mit Leitartikeln oder Wahlaufrufen Menschen kaum umstimmen kann: Diese lesen und hören nur heraus, was schon vorhandene Meinungen bestätigt.

Marko verweist nun auf Erkenntnisse einer kybernetischen Forschungsgruppe in München: Von außen empfangen wir über unsere Sinnesorgane eine ungeheuer große Informationsmenge, etwa 10’ bis 10* Bit je Sekunde (1 Bit = Informationseinheit, in der deutschen Sprache entspricht ein Buchstabe der Informationsmenge von 1,3 Bit).

Im Bewußtsein aber können wir höchstens 30,40,50 Bit pro Sekunde erleben. Wir müssen die ungeheure Information also drastisch reduzieren, die unnötige Information beseitigen und das, was für uns relevant ist, ausfiltern.

Wie aber geht diese „Redundanzreaktion” vor sich? Dazu brauchen wir das Gedächtnis. Dieses ist, wie die neuere Gehirnforschung nachgewiesen hat, keineswegs in bestimmten Gehirnregionen quasi als ,.Archiv” verankert, sondern sitzt gewissermaßen überall.

Gewisse Sinnesreize mobilisieren die Erinnerung (nicht nur die individuell erworbene, sondern auch die genetische, zum Erbgut der Art gewordene — kleine Vögel erkennen sofort nach Entschlüpfen aus dem Ei: der große Schatten am Himmel ist ein Raubvogel, also mein Feind!)

Schreibt einer „End … “ auf die Tafel, wird ein deutschsprechender Zuseher richtig tippen, daß der nächste Buchstabe ein „e” sein wird.

Marko: „Wir sagen voraus, was wir Voraussagen können. Wir verringern damit die Information, das heißt den Uberraschungs- effekt, den die Welt uns bietet. Dafür haben wir unser Nervensystem entwickelt, um vor Überraschungen so sicher wie möglich zu sein.”

In Konsequenz heißt dies, daß wir uns von Natur aus nicht für das Erwartete, Normale, die Routine, sondern nur für das Ungewöhnliche, das Abnormale, das Unerwartete interessieren: „Es entspricht den Bedürfnissen unseres Nervensystems” (Gombrich).

Die „Ausrede” stimmt

Das ist aber auch die verblüffende Antwort auf die Frage, warum die Massenmedien „immer nur Sensationen” bringen und sich dabei auf Leser, Hörer und Seher „ausreden”, die das Alltägliche nicht verlangen: Die „Ausrede” stimmt! (Was nicht stimmt, ist, daß immer das Böse als das Unerwartete firmiert.)

Diese Schlußfolgerung wird in den vorliegenden Gesprächen und Vorträgen nicht ausgesprochen, ist aber unausweichlich. Eine andere wird ausgesprochen und ist noch faszinierender: Wir hätten kein Gedächtnis, wenn unser Leben nur aus Zufälligkeiten bestünde, denn wir brauchten dann keins!

Umgekehrt gäbe es keine Information, wenn die Welt in allen Abläufen determiniert, vorausbestimmt wäre. Wir könnten nichts Neues erfahren. „Die Information ist geradezu definiert durch das Maß an Zufall, welches das Ereignis enthält” (Marko).

Die Welt besteht also weder aus lauter vorprogrammierten Abläufen noch aus lauter Zufällen. (Man darf statt Zufall auch Freiheit sagen.) Gombrich: „Das Vergnügen liegt zwischen Langeweile und Verwirrung.” Ein Musterbeispiel ist das Ornament in der Kunst: Es hebt sich durch Bewegung von einer monotonen Umgebung ab, trägt aber gleichzeitig auch Ordnung in sich.

Im Griechischen bedeutet das Wort „Kosmos” gleichzeitig „Schmuck” und „Ordnung”, ohne daß die Griechen dies als Gegensatz empfunden hätten. Evolution als Entwicklung von immer mehr Ordnung kommt einem in den Sinn. Oder Kunst, die schön sein müßte … Und das sollte keine aufregende Lektüre sein?

AUGE MACHT BILD. OHR MACHT KLANG, HIRN MACHT WELT. Von Franz Kreuzer. Deuticke Verlag, Wien 1983, Pbck., 104 Seiten, öS 118,—.

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