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Statistik ist keine Moral

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Der Papst in Österreich war sehr sympathisch -seine Lehre nicht. Etwa so kam das Ergebnis einer Umfrage im Fernsehen heraus. Der Autor und ein Bischof haben das Wort.

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Der Papst in Österreich war sehr sympathisch -seine Lehre nicht. Etwa so kam das Ergebnis einer Umfrage im Fernsehen heraus. Der Autor und ein Bischof haben das Wort.

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Der Schreiber dieser Zeilen verfügt über keine bessere Information als die Fernsehsendung am 10. Jänner. Ich kenne weder die genauere Fragestellung dieser Erhebung noch die exakten Zahlen. Aber damit sei die wissenschaftliche Sachlichkeit des Unternehmens nicht in Frage gestellt.

Es dürfte grundsätzlich kein großer Schaden sein, wenn allzu triumphale Rauschgefühle durch derartige nüchterne Offenlegungen eine gewisse kühlende Dusche erfahren. Für den pastoralen Insider ist vieles davon keine Überraschung.

Der Seelsorger mit offenen Augen und einer tieferen Kenntnis der Menschenherzen hat sich von einem Fest des Glaubens sicher nicht einfach die exakte moralische Vordermanndeckung und Seitenrichtung der österreichischen Katholiken erwartet.

Und der überzeugteste Aktivist der Kirche ist von Wien sicher nicht mit der Hoffnung nach Hause gefahren, daß er von nun an in allen Bereichen des menschlichen Lebens und der sittlichen Uberzeugungen eine „g'mahte Wies'n" vorfinden werde.

Damit möchte ich weder Katholikentag noch Papstbesuch def ini-torisch abwerten. Beides hat sehr viel Positives gebracht, viel mehr, als man erwarten konnte.

Aber es bleiben die Diskrepanzen zwischen der Stimmung der Septembertage 1983 und dem ethischen Alltag des österreichischen Christen. Der Tatsache kann man sich nicht entziehen — und ein Bischof wahrscheinlich am allerwenigsten.

Es wird weiterhin die Aufgabe der Kirche sein, Unverdrossen-heit an einem der schwierigsten Teile ihrer Sendung zu üben: bei Bildung der Gewissen in einem ethisch verunsicherten, desorientierten und manchmal überforderten Zeitalter. Diese Aufgabe schließt eine andere, selbstkritische, mit ein, nämljch immer wieder die Gültigkeit der Uberzeugungskraft der eigenen Verkündigung zu reflektieren, Unsicherheiten aufzuhellen und Dunkelheiten zu klären, so gut das ein Mensch in seinen Begrenztheiten vermag.

Zur Auswertung der kirchenkritischen Erkenntnisse dieser Befragung seien mir aber wieder zwei kritische Gedanken erlaubt.

1. Einige Aussagen erscheinen mir zu pauschalierend. Die angesprochene Diskrepanz erstreckt sich wohl kaum auf „das, was dieser Papst lehrt", sondern auf bestimmte engbegrenzte Themen der Sexualmoral, wie etwa der Empfängnisverhütung. Nun hat aber der Papst davon meines Wissens ein einziges Mal gesprochen, und zwar in einer kurzen Passage in seiner Predigt im Donaupark. Würde man dies rechnerisch mit den Gesamtaussagen des Papstes in Österreich in Vergleich setzen, so käme ein winziger Prozentsatz von dem heraus, „was der Papst gelehrt hat".

Einzuräumen ist, daß die betreffende Thematik sehr ins Leben greift — aber ich glaube, daß mit dem, was der Heilige Vater im Haus der Bamherzigkeit, im Stephansdom, vor den Arbeitern, vor den Vertretern von Kunst, Wissenschaft und Publizistik, vor den Menschen des öffentlichen Lebens gesprochen hat, der Großteil der österreichischen Katholiken konform geht.

2. Die zweite kritische Bemerkung geht etwas tiefer. Es gibt im soziologischen Bereich doch manchmal die Versuchung, das Ergebnis einer Statistik als Grundlage für das Sollen zu betrachten. Die Statistik sagt mir, wenn sie gut gemacht ist, nur, was derzeit bei den'Menschen im moralischen Bereich überwiegend faktisch gilt.

Es ist auch für die Kirche wichtig, das zu wissen. Darum habe ich eine entsprechende Untersuchung über Eheprobleme in unserer Diözese selbst subventioniert. Aber die Statistik kann nicht aussagen, was gelten soll, was ethisch richtig ist.

• Eine Statistik des Jahres 1540 hätte eine überwältigende Mehrheit für die Hexenverfolgung ergeben — deswegen war diese doch eine moralische Verirrung.

Eine Statistik des Jahres 1840 hätte unter den Christen keine Zustimmung zu Grundwerten der Toleranz und der Religionsfreiheit bestätigt - deswegen hatten diese sittlichen Werte aber trotzdem eine grundsätzliche moralische Gültigkeit.

Eine Statistik des Jahres 1940 hätte eine vernichtende Beurteilung des Judentums gebracht und eine ziemlich pauschale Gutheißung seiner Ausschaltung — trotzdem wäre diese Ansicht moralisch verwerfenswert geblieben.

Die Triumphkarte der Statistik sticht also nicht immer. Selbst wenn die Auswertung der Befragung im Fernsehen das auch gar nicht behaupten wollte, so ist es doch richtig, im Rahmen einer derartigen Problematik einmal auf diese Grenze hinzuweisen.

Das kritische Aufzeigen dieser Grenze des Gewichts einer Befragung über moralische oder religiöse Probleme enthebt die Kirche natürlich nicht der Aufgabe, gerade in den umstrittenen Bereichen engagierter und tiefer nach der Wahrheit zu fragen.

Denn wenn auch in den großen Linien das christliche Ethos in der Offenbarung vorgegeben ist, so heißt das ja noch nicht, daß die Kirche immer im Detail sofort für alle Fragen die richtige Antwort haben muß. Und vor allem ist noch lange nicht gesagt, daß die Art einer Verkündigung und der Begründung sittlicher Forderungen in allem hieb- und stichfest sein muß.

Meine kritischen Bemerkungen wollen für diese zeitlos bleibende Aufgabe der Kirche kein billiges Alibi schaffen.

Was aber die Gesamtwertung des Papstbesuches betrifft, so würde man wohl danebenzielen, wenn man ihn, nachdem die vorausgehende ablehnende Kritik kaum gegriffen hat, nun in nachfolgender „wissenschaftlicher" Form auf die Begegnung mit einer charmanten Persönlichkeit ohne Bedeutung für das Leben reduzieren möchte.

Aber ich räume durchaus ein, daß die störenden Vereinfachungen nur Folge rauher Schnitte einer Fernsehsendung sein könnten, die bei diffizilen Themen besonders verzerrend wirken.

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