6963657-1985_05_13.jpg
Digital In Arbeit

Sucht nach dem Suchen

Werbung
Werbung
Werbung

Wer heuer auf die üblichen Tanzansagen, die zuletzt im grammatikalisch umstrittenen „Alles Walzer!” gipfeln, wartete, wurde enttäuscht. Ganz allein mußten die für die Eröffnung des Techniker-Cercles ausgewählten 78 Paare den richtigen Weg über das Parkett des Musikvereins finden.

„Die Jugend hat sich nicht verändert. Ich kann nichts Schlechtes sagen. Sie sind alle sehr lieb und tüchtig. Manchmal verschwinden sie für eine Zeit, und wenn sie wiederkommen, haben sie eine Prüfung gemacht.” Es ist schlicht unmöglich der „grande dame” unter den Wiener Ball-Organisatorinnen, Helga de Bordes, ein kritisches Wort über „ihre” Schützlinge zu entlocken.

Ist es ein Zufall, daß gerade die Menschen, die sehr viel mit jungen Leuten zu tun haben, so selten von der „heutigen Jugend” sprechen? „Pickerln” und Etiketten werden vor allem von Politikern, Meinungsforschern und von den Medien verteilt.

Sicher, „die Achtundsechziger” waren seinerzeit nicht zu übersehen. Die „Anpasser” jedoch, die der Trend nach ihnen kürte, schmeckten schon ein wenig nach Verlegenheitslösung.

Und heute?

Kann und darf man junge Menschen, die die Au besetzen, ein paar Wochen später auf Bällen tanzen, sich in Jeans wie im Frack wohl fühlen, mit der Hilfe eines einzigen, oberflächlich gewählten Begriffes verstehen und interpretieren? Sollte man nicht lieber erkennen, daß das, was diese Jugendlichen verbindet, eben jener bunte Individualismus in Habitus und Rollenspiel ist, der sie - unbelastet von Krieg, Aufbauwillen (und Aufbauzwang, was gern vergessen wird), aber auch von der Revolte dagegen - leben, sich ausleben läßt.

Auch heuer wieder werden sie alle da sein und die Faschihgsveranstaltungen bevölkern - die Angepaßten und die ganz andern, die Fröhlichen und die Kritischen, die Blasierten und die Legeren, die Treiber und die Mitgeschleppten die Zahler und die, die einen Sponsor suchen.

Das Rollenspiel, das sich heute im Couture-Kleid, morgen in der Disco-Montur und übermorgen in der Langlaufkluft beim Schiwandern manifestiert, ist Ausdruck einer Sucht nach dem Suchen; Symbol für eine „Erfahrungsgesellschaft”, die den eigenen Erlebnissen und der Selbstverwirklichung mehr Raum und Zeit gewährt, als frühere Zeiten.

Nicht mehr der Zwang der Konvention ist das zentrale Problem, sondern die Notwendigkeit, den roten Lebensfaden in der Fülle der Möglichkeiten nicht zu verlieren. Nicht ohne Grund hat gerade diese Zeit den Begriff des „trial and error” (Versuch und Irrtum) geprägt. Sie kultiviert ihn ungeachtet aller negativen Tendenzen wie hohe Scheidungsziffern und Aussteigertum.

Die Systematik besteht im Unsystematischen, was keineswegs zwingend zu Narzißmus und Isolation führt, sondern mindestens ebenso oft zu neuen Lebensmodellen.

Die Grundbedürfnisse - Arbeit, Wohnung, Geborgenheit in Beziehungen — sind zweifellos dieselben wie zu anderen Zeiten. Nur der Weg dahin mag länger und gewundener sein. ,

Die „Arbeitsplatzsicherheit” der siebziger Jahre hat sich vielfach als Schimäre entpuppt. Ist es da nicht geradezu ein Glück, daß viele Jugendliche nicht genau wissen, was sie wollen, sondern lieber durch Experimentieren herausfinden, was sie nicht wollen?

Das Sich-treiben-Lassen, das so häufig kritisiert wird, kann auch als Offenheit für alles, was kommt, verstanden werden. Nicht nur unter den Erwachsenen, auch unter den jungen Leuten gibt es die schweigende Mehrheit, die zwischen Philharmoniker-Ball und Ikea-Möbeln, zwischen Popkonzert und Opernstehplatz, zwischen Hainburger Au und Junger Industrie neue Wege geht und die bei ihrer Suche nach diesen neuen Wegen durch die lange Friedenszeit vielleicht unvoreingenommener, wenn auch nicht weniger engagiert vorgeht.

Das Verhalten dieser Jugendlichen bildet keinen „Trend”, weil die jungen Leute wenig Gemeinsames haben, außer vielleicht den Versuch einer Verbindung von Menschlichkeit und Egoismus. Sie zu etikettieren, kann leicht in Etikettenschwindel ausarten.

Der Raum, in dem wir leben

Seit geraumer Zeit bemüht sich die Institution Pro Austria No-stra, Werte der Vergangenheit zu erhalten. Dabei setzt sie sich mit den grundlegenden Fragen von Denkmalschutz und Ortsbildpflege auseinander und hat ein Handbuch herausgegeben, das die wesentlichen Begriffe in bezug auf Altstadt- und Ortsbilderhaltung anhand praktischer Beispiele zu klären versucht.

Die Herausgeber Manfred Wehdorn und Rose Rebhann haben namhafte Fachleute um Beiträge gebeten, die sich mit Raumordnung, Revitalisierung, Baubiologie, aber auch mit Tür und Tor, Dach und Dachgarten befassen. Viele Illustrationen geben den Studien zusätzliche Beweiskraft.

GS

STADT UND LAND. Neues Leben in Alter Heimat. Redaktion Manfred Wehdorn und Rose Rebhann. Herausgegeben von Pro Austria Nostra. Kommissionsverlag: Verlag Wilhelm Braumüller. Wien 1984. 176 Seiten, öS 195,-.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung