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Terror auf der Stadtbahn

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Wer die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte einigermaßen hellhörig verfolgt hat, weiß, daß die größte Bedrohung der westlichen Demokratien jene ist, die von innen kommt. Gemeint ist ausnahmsweise nicht jener verbrecherische Terror, der sich in unserem Nachbarland anschickt, mit Hanns-Martin Schleyer eine ganze Regierung, ein ganzes Land im „Volksgefängnis“ einzusperren.

Gemeint ist jener Terror, der langfristig unsere demokratischen Staatsformen vielleicht nicht minder wirksam bedroht als der Baader-Meinhof- Terror; jener Terror, dessen Sympathisantenszene kaum noch überbietbare Ausmaße angenommen hat: Es ist der Terror der Verantwortungslosen, der Terror der unter der Decke der Demokratie versteckten Egoisten und Ignoranten.

Da fährt ein vollbesetztet Stadtbahnzug mit grölenden Fußballfans Richtung heimwärts. Harmlos. Da kommen einige Randalierer auf die Idee, im Wagen die Birnen herauszuschrauben. Fesch! Nicht wahr? Einer von ihnen macht die Hetz zum wahren Fest - und zieht die Notbremse. Mutig - gelt? Das Resultat sind zwei ineinander verkeilte Stadtbahnzüge, 44 zum Teil schwer verletzte Fahrgäste, ein Sachschaden in Millionenhöhe.

Was hier geschah, ist eine besondere und weit verbreitete Variante von Terror. Terror durch Ignoranz, Terror durch Verantwortungslosigkeit.

Sicherlich wird noch an die Stadt? bahnverwaltung und an die Gemeinde Wien die Frage zu richten sein, was sie von Sicherheitsvorkehrungen halten und wie effizient jene bei der Stadtbahn üblichen Vorkehrungen sind. Möglicherweise werden die Antworten unter Reichsbrücke, II. Teil, einzuordnen sein. Getreu der marx’schen Erkenntnis, daß der Mensch ein Ensemble seiner sozio-ökonomischen Bedingungen ist, sei es aber auch erlaubt, nach den gesellschaftlichen Ursachen solchen Treibens zu fragen.

Der Stadtbahn-Terror war leider kein Einzelfall. Er war nur besonders tragisch-sensationell. Der Stadtbahn-Terror lebt in geistiger Verwandtschaft mit anderen Barbareien, wie Zerstörung von Telephonzellen, Verwüstung von Parkanlagen, mutwillige Beschädigung öffentlicher Verkehrsmittel, überhaupt mit der vorsätzlichen Beschädigung all dessen, was im öffentlichen Eigentum ist, was uns allen gemeinsam und niemandem persönlich gehört. Darüber sollten wir uns im klaren sein!

Es wäre nicht uninteressant, alle jene durch scheinbar unmotivierten Zerstörungswahn entstandenen Schäden an öffentlichen Einrichtungen zusammenzählen. Die vermutlich recht stattliche Schadenssumme, die aus all der! verschiedenen Formen des modernen Vandalismus resultiert —- in den Straßenbahnen finden sich immer wieder Plakate mit dem Hinweis auf die millionenschweren Sachschäden durch ausgesprochene Mutwillenstäter —, könnte gerade heute zur Finanzierung der recht zahlreichen Defizite im öffentlichen Haushalt ganz gut gebraucht werden.

Eine der Hauptfragen in dieser Angelegenheit müßte lauten: Ist unsere Gesellschaft überhaupt fähig, ihre Kinder zur Verantwortung in dieser Gesellschaft zu erziehen? Nach dem Schulorganisationsgesetz 1962 ist es auch eine der Aufgaben der Schule, die Schüler „zu verantwortungsbe wußten Gliedern der Gesellschaft und Bürgern der demokratischen und bundesstaatlichen Republik Österreich“ zu erziehen. Wie aber wird die Schule dieser Aufgabe gerecht? Wie werden die Eltern dieser Aufgabe gerecht? Wie die Lehrer? Die Politiker? Die Idole der Jugend? Oder erziehen die eigentlichen Idole der Jugend ihre Anhänger zu einer Einstellung, wonach öffentliches Eigentum Niemandsland ist, das zum Nulltarif benützt und daher auch zum Nulltarif zusammengeschlagen werden darf?

Zu untersuchen wäre auch, ob nicht zwischen wachsenden Staatsanteilen, immer unkontrollierter leistenden Staaten (Wegwerfschulbuch!) und der wachsenden Ignoranz diesen Einrichtungen gegenüber ein sehr direkter Zusammenhang besteht.

Die Gleichgültigkeit dem staatlichen Ganzen gegenüber läßt sich aber nicht auf den nur materiellen Bereich beschränken. Im geistigen Bereich sind Entfremdung, Zurückgezogenheit, verantwortungslose Ignoranz und zunehmendes Desinteresse vielleicht noch offenkundiger. Die allgemeine Neigung, sich - nicht zuletzt aufgrund der negativen Erfahrungen der Väter-Generation - mit Politik über das Kreuzeri am Wahltag hinaus möglichst nicht anzupatzen, nimmt auch immer bedrohlichere Formen an.

Es ist nicht, zu leugnen: Der Durchschnittsmensch, der vielzitierte Mann von der Straße, der laut Sonntagsrede ein mündiger, reifer und verantwortungsbewußter Bürger ist, lebt in Wirklichkeit in innerer' Emigration seinen Mitmenschen und seinem Staat gegenüber.

Oft schon ist darauf hingewiesen worden, daß in unserer sich der Perfektion nähernden Vertretungs-Demokratie alles/und jedes durch irgendeine „legitimierte“ Instanz oder Person vertreten wird. Die repräsentative Demokratie hat ihre unschätzbaren Vorteile, sie birgt aber auch Gefahren in sich, deren Früchte zu ernten wir schon begonnen haben: Die Gefahr, auch alle Reste von Verantwortung zu delegieren und sich selbst von jeder Verantwortung freizusprechen.

Gegen Terroranschläge verantwortungsloser Ignoranten, wie im Falle Stadtbahn, gibt es sicher.keine Patentrezepte. Das Unbehagen aber, das uns längst erfaßt hat und in gefährlicher Beziehungslosigkeit zwischen Staatsbürger und Staat seinen Ausdruck findet, sollten wir nicht verharmlosen. Das wäre auch ein Fall verantwortungsloser Ignoranz.

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