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Unterwegs zum Planeten der Affen

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Bei einer Rauschgiftorgie in Detroit kommen sieben Menschen ums Leben. Ein Vorfall, den man mit anderen Nachrichten konsumiert, ohne weiter nachzudenken. Aber gerade in einem Zeitalter, in dem man die Verhaltensweisen der Menschen und deren soziologische und psychologische Motivationen zu kennen meint, steht die Hilflosigkeit solchen Phänomenen gegenüber in einem reziproken Verhältnis zum Stand des Wissens. So ist auch das Phänomen der Massenhysterie, dem das Budi Wilhelm Reichs gilt, ein bis heute unerklärtes. Dieses Phänomen wird vielleicht dort am deutlichsten, wo die Unfähigkeit, es zu erklären, zugegeben wird. In den Bekenntnissen des Augustinus tritt ein Mann na- mans Alypius auf. Dieser, bereits getauft und Schüler des Augustinus, wird in ein Amphitheater verschleppt. Wider Willen verfällt er angesichts des Tobens der Menge ringsum rettungslos dem Rausch und dem Taumel der Menge. „Nun war er“, schreibt Augustinus, „nicht mehr der, als der er gekommen war, sondern nur noch einer aus der Masse.“

Seit diesem Zeitpunkt hat sich das Phänomen der Massenhysterie wohl nicht wesentlich verändert. Zweifellos aber muß dem Willen, den Gesetzen gesellschaftlicher Wirkkräfte hinter die Schliche zu kommen, uro sie zu bewältigen, die Anteilnahme aller denkenden Menschen folgen. Wilhelm Reich widmet sein Buch dem Entstehen faschistischer Bewegungen in Europa. Es erschien 1933 zum erstenmal und wurde später überarbeitet. Für die Leser, die an den Katastrophen des zweiten Weltkrieges zum Teil mitbeteiligt waren, zum Teil nur davon unterrichtet wurden, ist wohl nur noch die Frage interessant: Können die Theorien Reichs, die vielfach bekannt sein werden, einen Beitrag leisten zum Verständnis des Irrationalen innerhalb der menschlichen Gesellschaft?

Wer die Entwicklung der Nachkriegszeit mitvollzag, wird bei der Lektüre des Buches von Wilhelm Reich nachdenklich. Die Anstrengung, eine oder mehrere Wurzeln der „faschistischen Pest“ zu finden und auszureißen, erweckt den Eindruck es handle sich dabei um eine Art Suche nach dem Stein der Weisen, der bekanntlich niemals gefunden wurde. So ist Reichs „Sexualökonomie“ dort, wo sie empirisch vorgeht, auch heute noch interessant, dort aber, wo sie gegen die Ideologie der „politischen Verführer“ auftritt, eben wieder nichts anderes als Ideologie. Von einer Unbedingtheit, die historische Verfälschungen nicht scheut, von einer Starrheit in der schematischen Grundvorstellung, die eben nur damit erklärbar wird, daß aus den Erlebnissen der Grausamkeiten des Faschismus heraus der Wunsch übermächtig wurde, das Phänomen denkeriseh zu bewältigen und „irgend etwas“ verantwortlich zu machen für die Qualen, den Tod, das Leiden von Millionen.

Dieses „Irgend-Etwas“ ist nach Reich der in (Jas mystische Erleben sich pervertierende, biologisch unbefriedigte Mensch, den er im kleinbürgerlichen Milieu aufspürt und im Typus des religiösen Menschen gipfeln läßt.

Nun gibt es sicher viele Erklärungen für das religiöse Erlebnis der Menschen. Es i9t aber doch vom wissenschaftlichen Standpunkt absurd, das Religiöse gedankenlos mit einer Art schwüler Mystik zu verbinden, hinter der nichts anderes steht als weihrauchgeschwängerte Ersatzbefriedigung. Wer die Geschichte der Entstehung der abendländischen Religionen kennt, wird immer wieder überrascht sein, daß eine Religion wie das Christentum in der Lage war, sich im Wust mithräischer und sonstiger Erlösermythen als eine zunächst der Ratio verpflichtete geistige Disziplin durchzusetzen. Historisch denken ist aber die Sache Reichs nicht. Sein Denken beginnt frühestens mit Freud und endet in einer vagen Utopie eines apolitischen Zeitalters sexuell befriedigter Arbeitstiere. Wer dieses Buch heute liest, der verspürt den Wunsch, ein gnädiger Gott möge die Menschheit in Zukunft vor Sexualökonomen vom Schlage Reichs in Zusammenarbeit mit den von Reich so sehr herbeigewünschten Technokraten behüten. Das Verdikt, das Reich jedweder Politik ausspricht (Hitler als politisches Genie war eine riesenhafte Entlarvung der Politik überhaupt. Mit Hitler hat die Politik ihre höchste Entwicklung erreicht), bleibt blaß gegenüber der von Reich heraufbeschworenen Ideologie der tierischen Existenz als einer biologisch gesunden (Tiere bekämpfen einander nicht, wohlgemerkt innerhalb der eigenen Art). Die Frage, warum nicht von Anfang an alles bei den Viechern blieb — ein friedlich fressendes Szenarium inmitten des Alls, auf einem Stück Ball durch das Weltall rasend —, bleibt jedenfalls offen.

Gesund, das ist überhaupt ein Zauberwort einer die Naziideologie verdammenden Untersuchung. Ein echter Revolutionär ist selbstverständlich im Besitz gesunder Sexualität, kräftig und wissenschaftsfreudig. Der Mensch der Zukunft im

Sinne Reichs lebt von seiner genitalen Stummheit.

Was Reich über die reaktionäre Entwicklung in der Sowjetunion mitteilt, ist nicht neu und gilt grundsätzlich für alle fortschrittlichen Kommunisten. Ob Faschismus nur der Ausdruck einer Krankheit des Menschengeschlechts überhaupt ist, bleibe dahingestellt. Gefährlich sind nur allzu simple Erklärungen. Die Ideologie beruht zum Großteil auf Vereinfachung. Intellektuelle, die im Namen der Vernunft gegen Ideologien auftreten, sollten sich jedenfalls vor Vereinfachungen hüten. Reichs Buch wird heute deshalb nur noch zu einem geringen Teil für eine ernst zu nehmende Forschung in Frage kommen. ,

DIE MASSENPSYCHOLOGIE DES FASCHISMUS. Von Wilhelm Reich. Verlag Kiepenheuer und Witsch. 384 Seiten.

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