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Wer hat Angst vor Gebeten?

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Das Vertrauen in Gott darf in den Vereinigten Staaten zwar auf Geldscheinen und bei Gericht bekundet werden, doch nicht durch Gebet in öffentlichen Schulen, entschied das Höchstgericht.

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Das Vertrauen in Gott darf in den Vereinigten Staaten zwar auf Geldscheinen und bei Gericht bekundet werden, doch nicht durch Gebet in öffentlichen Schulen, entschied das Höchstgericht.

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Alles zusammen dürfte wohl fünf Minuten gedauert haben: Rabbiner Leslie Gutterman sprach bei der Schulabschlußfeier einer öffentlichen Pflichtschule einige allgemein gehaltene Fürbitten und ein Segensgebet, in dem er Gottes Segen für das Land, die Lehrer und die gerade aus der Schule entlassenen Schüler erbat. Grund genug für die Familie Weissmann, die an der Abschlußfeier ihrer Tochter teilnahm, die Leitung des Schulbezirks bei Gericht zu klagen, da ihrer Ansicht nach die Praxis, daß bei Schulfeiern Geistliche der verschiedenen Religionsgemeinschaften überkonfessionelle Gebete sprechen, der Trennung von Staat und Kirche in den USA zuwiderlaufe.

Der Oberste Gerichtshof der USA hat darauf in einem Erkenntnis ein älteres Urteil aus dem Jahr 1962 bekräftigt, wonach Gebete in öffentlichen Schulen der Verfassung widersprechen. Grundlage für das Urteil ist der erste Zusatzartikel der US-Verfassung, wonach der Staat die „Errichtung" (establishment) einer Religion zu unterlassen habe.

Verfassungsrichter Anthony M. Kennedy hielt in der Urteilsbegründung fest, daß sich das Gericht nicht gegen die Religion wende, Schüler aber nicht gezwungen werden könnten, in öffentlichen Schulen an Gebeten teilzunehmen. „Die Verfassung anerkennt den hohen Wert des Glaubens und der Religionsausübung, und verbietet daher dem Staat, Religion vorzuschreiben oder zu verordnen. Die Verfassung entscheidet, daß die Pflege des Glaubens und des Gebets in der alleinigen Verantwortung des Einzelnen liegt, der jegliche Freiheit besitzt, diesen Bemühungen nachkommen zu können."

Kritiker des Urteils weisen darauf hin, daß in den USA bei allen wichtigen Ereignissen in der Öffentlichkeit Gottes Segen erfleht werde, ja selbst der oberste Gerichtshof seine täglichen Sitzungen mit der allgemeinen Gebetsformel „Gott schütze die Vereinigten Staaten und dieses Gericht" eröffne. Und auf der Dollar-Note steht der Satz „In Gott vertrauen wir".

Das Urteil des Obersten Gerichtshof verdeutlicht einmal mehr das komplizierte Verhältnis von Staat und Religion in den USA. Niemand wird annehmen, daß mit einem schlichten Schulgebet die Grundfesten des Staates unterminiert werden, oder der Staat eine Religion in einer ohnehin überaus stark jüdisch-christlich geprägten Gesellschaft besonders bevorzugt. Amerika findet vielmehr - wie in vielen anderen Bereichen - in dieser Frage nicht die Mitte zwischen dem Möglichen und Unmöglichen.

Auf der einen Seite können Lehrer unter dem Schutz der freien Meinungsäußerung in den Klassenzimmern antireligiöse Literatur lesen. Auf der anderen Seite versuchen politisch motivierte fundamentalistische Christen an die Tore der Schulen zu klopfen, um ihre rigiden Lebensformeln zu predigen. Nur das verhältnismäßig einfache Segensgebet, in dem beinahe alle einstimmen können, wird von den Verfassungshütern verbannt. Das alles hat Folgen: Einige Gerichte haben damit begonnen, das Aufstellen von Gipfelkreuzen und von Krippen während der Weihnachtszeit auf öffentlichen Plätzen zu verbieten.

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