6606765-1954_23_13.jpg
Digital In Arbeit

Schulen für alle Kinder Gottes

Werbung
Werbung
Werbung

Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten von Amerika hat soeben ein Urteil gefällt, das in der Geschichte dieses Landes und in der Geschichte des Kampfes um die menschlichen Rechte in der Welt einen Eckstein bilden wird. Das Urteil ist berufen, einen Flecken auszulöschen, der mehr als nur einen Schönheitsfehler bedeutet hat. Ueber die Klage einer Anzahl von Rechtsanwälten im Namen ihrer Negerklienten aus den Südstaaten hat er entschieden, daß die Trennung (Segregation) der Negerkinder von den Kindern weißer Eltern in amerikanischen Schulen, wie sie in einer Reihe von Staaten gehandhabt wird, die Verfassung des Landes verletzt.

Bei der Verlesung des Urteils in der Marmorhalle des Obersten Gerichtshofes in Washington liefen den anwesenden Negerkorrespondenten Tränen der Freude und Rührung über die Wangen. Eine der führenden Negerzeitungen erklärte das Urteil für die größte Errungenschaft der Neger seit Abraham Lincolns Erklärung der Freisetzung der Sklaven. Der Süden empfing die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes allerdings mit ungleich anderen Gefühlen. Während einige offizielle Persönlichkeiten zum offenen Widerstand aufriefen und die Ersetzung des öffentlichen Schulsystems durch ein System privater Schulen, auf die der Gerichtsentscheid keinen Einfluß habe, für ihre Staaten vorschlugen, erklärten andere Südstaaten durch ihre Vertreter, sie müßten sich mit den Tatsachen abfinden und versuchen, die Entscheidung zu verwirklichen, so gut dies eben möglich sei. Die Durchführung des Gerichtsentscheides wird im Hinblick auf die umwälzenden technischen Veränderungen, die notwendig werden, mehrere Jahre erfordern.

Es mag angebracht sein, an dieser Stefie etwas über diese Geschichte machende Entscheidung in Washington zu berichten. Nach Beendigung des Bürgerkrieges zwischen den Nord- und Südstaaten wurden im amerikanischen Parlament einige wichtige Veränderungen in der Verfassung vorgenommen: der dreizehnte Zusatz zur Verfassung (Amendement), der die Sklaverei aufhob; der vierzehnte, der den Negern alle Bürgerrechte und gleichen Schutz durch das Gesetz gewährleistete, und das fünfzehnte Amendement, das dem Neger das Recht zu wählen gab. Die Südstaaten haben diese grundlegenden Veränderungen in ihrer politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Struktur nie ganz überwunden, und durch Gesetze, die in der Jurisdiktion jedes der einzelnen der Vereinigten Staaten liegen, konnten sie eine Separierung des Negers vom Weißen in Schulen, Universitäten, Krankenhäusern, Bibliotheken, Gastwirtschaften, öffentlichen Verkehrsmitteln und anderen öffentlichen Plätzen aufrechterhalten. Der Grund gedanke dieser Trennung war, die Vorherrschaft der weißen Rasse — „White Suprem- acy“ — nicht ins Wanken kommen zu lassen. Der Separierung der Negerkinder von Kindern weißer Eltern schon in ihrer frühesten Jugend, im schulpflichtigen Alter, kam eine außerordentlich große Bedeutung in der Erziehung nach dieser Idee zu. Sie hatte eine moralische und psychologische Basis. Sie unterstützte, auf der einen Seite das Bewußtsein, Angehöriger der Herrenrasse zu sein, auf der anderen hingegen erzeugte und erhielt sie das Gefühl der Minderwertigkeit und Unterordnung. Aus diesem Grunde wurde die Trennung der Schulkinder schon seit langem sowohl verteidigt als auch bekämpft — bekämpft nicht zuletzt von vornehmen Vertretern der katholischen Lehre. Im Jahre 1896 — augenscheinlich beeinflußt durch innerpolitische Emägungen — entschied der Oberste Genchtshof, daß eine Segregation die Verfassung nicht verletze, sofern weißen und farbigen Bürgern gleichwertige Institutionen zur Verfügung gestellt werden. Obwohl es sich um eine Entscheidung in einer Klage um die Benützung eines öffentlichen Verkehrsmittels durch einen Neger handelte, fand sie doch auf alle Fälle von Trennungen Anwendung. Sie schuf die sogenannte „Getrennt, aber gleichwertig“- Doktrin, die sich trotz starker Anfeindungen, besonders von selten der Nordstaaten, bis heute erhalten hat. Der Entscheid des Obersten Gerichtshofes im Jahre 1896 war nichts anderes, als was wir heute im täglichen Leben wie auch in der großen Politik als eine Kompromißlösung bezeichnen. Er erhielt das Auskommen zwischen dem Süden und Norden, er half der Zeit Wunden der Gesinnungsgegensätze heilen und sie reif zu machen für die Entscheidung, die vor einigen Tagen gefallen ist.

Seit Ausbruch des zweiten Weltkrieges haben sich die farbigen Bürger der Vereinigten Staaten einige wichtige Stellungen er- obeft, die sie vordem nicht innehatten. In einer Reihe von Südstaaten waren Neger noch immer wohl dem Gesetze nach gleichberechtigt, in der Praxis jedoch nicht, aber seit Beginn des Krieges hatte es im Gemäuer der „White Supremacy“ stark zu rieseln begonnen. Im Jahre 1952 wurden beim Obersten Gerichtshof Klagen aus vier Südstaaten gegen die Trennung auf dem Gebiete der öffentlichen Erziehung eingebracht, und bei dieser Gelegenheit wurde der Oeffentlichkeit wieder in Erinnerung gerufen, daß in siebzehn Staaten und im Distrikt Columbia (Washington D. C.) die Trennung von Schulkindern erforderlich und in weiteren vier Staaten erlaubt ist. Nahezu 40 Prozent aller amerikanischen Schulkinder werden in ihrer Erziehung von den anderen 60 Prozent abgesondert. Ueber den psychologischen Einfluß hinaus, den diese Absonderung ausüben muß — wurde von Negerführern angeführt —, seien die Schulen für Neger minderwertiger als die für weiße Kinder, die Gebäude seien alt, die Lehrmittel veraltet, die Lehrer hätten nur eine ungenügende Vorbildung und erhielten ein unzureichendes Ge- halt, in einzelnen Teilen des Südens seien Negerschulen während der Anpflanzungsund Erntezeit (besonders für Baumwolle) überhaupt nicht geöffpet, und daher komme es, daß der durchschnittliche, amerikanische Neger über 25 Jahre nur 5,7 Jahre Schulzeit habe, während der Durchschnittsweiße auf 8,8 Jahre hinweisen kann.

Auf diese Klage hat der Oberste Gerichtshof nun geantwortet, und seine Antwort ist diesmal kompromißlos und eindeutig gewesen. Die Entscheidung wurde von allen neun Richtern einstimmig gefaßt — was sehr selten der Fall ist — und die Begründung des Urteils erforderte nur die geringe Anzahl von 1500 Worten, Sie vermied die übliche legali- stische Gerichtssprache und kleidete sich in das Gewand, das jeder Bürger kennt und versteht. Damit wollte der Gerichtshof wahr scheinlich zum Ausdruck bringen, daß es sich um mehr als eine Gerichtsentscheidung handelt, vielmehr um die Erneuerung eines Bekenntnisses, das von allen Bew’ohnern des Landes verstanden und in sich auf genommen werden soll, und schließlich — so wird dem Mitarbeiter der „Furch e“ von Rechtskundigen bedeutet — legt die Entscheidung größeren Nachdruck auf moralische und soziologische Faktoren als auf die rein rechtliche Begründung: Auch in dieser Hinsicht ist dieser Entscheid berufen, ein volkstümliches, aber historisches Dokument zu werden, dessen Auswirkung sich erst in zukünftigen Generationen fühlbar machen wird. Den Negern Amerikas verschafft sie die Möglichkeit, zu den gleichen Höhen, die ihre weißen Mitbürger bereits erklommen haben oder denen sie noch zustreben, aufzusteigen. Der Welt beweist sie, daß die Demokratie sich ihrer Fehler wohl bewußt ist, sie zugibt und an ihrer Gut- machung arbeitet.

Schulen für alle Kinder Gottes bedeuten Gottes Gebot in den Schulen aller Kinder.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung