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Ein zweiter Bürgerkrieg!

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Stehen die Vereinigten Staaten am Vorabend eines Bürgerkrieges? Der noch immer mächtigste Staat der Weit scheint sich in zwei feindliche Heerlager aufzuspalten. In den Großstädten des Nordens reißt die Kette der blutigen Unruhen nicht mehr ab. Den revoltierenden Gettobewohnern stehen schwerbewaffnete Truppen der Nationalgarde und der Armee gegenüber. Die Masse der amerikanischen Neger radikalisiert sich; diejenigen Gruppen, die unter dem Slogan „Black power“ aus ihrer Hautfarbe ebenso eine Ideologie imacheh, wie es die „weißen“ Rassisten schon seit Jahrhunderten tun, halben das Gesetz des Handelns an sich gerissen.

Die Befriedung der städtischen Gettos, das Niederschlagen der auf-standsähnlichen Unruhen ist nur die vordergründige Aufgabe, die sich den USA stellt. Detroit und Newark: Das sind nur Symptome einer überaus ernsten Krise der US-Gesellschaft, Symptome, hinter denen ein schwerer sozialer Defekt wirksam ist. Der vielgerühmte amerikanische Schmetatiegel hat Amerikaner irischer und deutscher, polnischer und italienischer Abstammung zu voll akzeptierten Mitgliedern der Gesellschaft gemacht. 20 Millionen Neger aber wurden vom Schmelztiegel, von der Integrierungsmühle der amerikanischen Nation, noch nicht oder nur teilweise erfaßt. 20 Millionen Amerikaner leiben in der amerikanischen Gesellschaft, ohne ihr anzugehören. 20 Millionen Amerikaner sind — eine relativ dünne Schicht von Intellektuellen ausgenommen — kulturell und sozial isoliert, sie leiben entweder eingesperrt in den Gettos der Großstädte oder, häufig am Rand des Existenzminimums, in den rückständigen Agrar-gebieten des Südens. Das erste Bürgenrechtsgesetz zugunsten der Neger seit 1882 wurde 1957 verabschiedet. Wie viele Jahrhunderte der Sklaverei, der „legalen“ oder der illegalen Unterdrückung stehen den wenigen Jahren emster Bemühungen gegenüber!

Der amerikanische Neger hat ein durchschnittliches Einkommen von 53 Prozent des Durchschnittseinkommens eines „Weißen“. Die Arbeitslosigkeit ist unter den Negern bedeutend höher als unter den anderen Amerikanern. Noch immer gibt es Wohngebiete in den Städten des Nordens, in denen es für Neger unmöglich ist, eine Wohnung zu bekommen. Noch immer wird die Bürgerrechtsgesetzgebung von den Südstaaten sabotiert. Noch immer halten die Südstaaten rassistische Gesetze aufrecht, wie beispielsweise das Verbot von Mischehen — obwohl der Oberste Gerichtshof erst vor kurzem die Verfassungwidrigkeit dieser staatlichen Bestimmungen festgestellt hat. Und noch immer sind die Neger in der Bildungsgesellschaft Bürger zweiten Ranges.

Das Schlüsselproblem ist die Erziehung. Zweifellos ist hier auch schon manches erreicht worden. Die berühmte Entscheidung des Obersten Gerichtshofes aus dem Jahre 1954, die jede Rassentrennung in den Schulen als verfassungswidrig brandmarkte, war ein echter Fortschritt. Aber die faktische Segrega-tion in den Schulen blieb nicht nur weitgehend aufrecht, sie hat sich auch in manchen Städten noch verstärkt: Die in den Vororten lebenden „Weißen“ schicken ihre Kinder in die (guten) Vororteschulen oder in (teure) Privatschulen, für die in den Gettos der Stadtzentren lebenden Neger müssen die (schlechten) Schulen der Citys genügen. Die durch die Gettobildung schon stark benachteiligten Neger werden aber auch noch oft zusätzlich diskriminiert: So mußte im .Juni dieses Jahres der Oberste Gerichtshof feststellen, daß in Washington D. C. die Schulverwaltung für Negerkinder im Durchschnitt weniger Geld aufwendet als für „Weiße“ und damit gegen die Verfassung verstößt. Die Bundeshauptstadt Washington wird von einem Kongreßausschuß verwaltet, in dem Senatoren aus den Südstaaten dominieren...

Die Situation ist für den reichsten Staat der Welt beschämend und bedrohlich zugleich: Einerseits wird mit dem Hinweis auf das Bildungs-deflzit der Neger deren soziale Inferiorität zu rechtfertigen versucht, anderseits geschieht viel zuwenig, um die Ursachen des Bil-dungsdefizites, die überall spürbaren, diskriminierenden sozialen Schranken, zu beseitigen.

Man sollte meinen, das alles sei schon Zündstoff genug. Doch der Krieg in Vietnam verschärft noch die Konfliktsituation. Er ist nicht nur die Hauptursache für den Stillstand der Bürgerrechtsgesetzgebung und des „Feldzuges gegen die Armut“, er verschärft auch in mancher Hinsicht die rassischen Gegensätze. Die amerikanischen Neger bekommen die Lasten des Krieges härter zu fühlen als die „Weißen“. Der Anteil der Neger an den Gefallenen in Vietnam ist höher als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung. Der Grund dafür ist relativ einfach zu finden: Ein „Weißer“ hat es im allgemeinen leichter, sich die notwendigen Verbindungen zu verschaffen, um einer Einberufung nach Vietnam zu entgehen. Der Eintritt in die Nationalgarden etwa gilt als eine beliebte Ausweichmöglichkeit. Wenn nun dieselben Nationalgardisten, die in den Augen vieler nichts anderes als Nutznießer guter Beziehungen sind, während der Unruhen gegen den Bevölkerungsteil eingesetzt werden, der die Hauptlast des Vietnamkrieges zu tragen hat, so werden dadurch die Gegensätze noch vermehrt.

Alle Versuche, der Masse der amerikanischen Neger das zu erobern, was bisher den „Weißen“ reserviert war, werden nur dann einen echten Fortschritt bringen, wenn sie auf ein Ziel gerichtet sind: daß in Zukunft das Schicksal der Amerikaner nicht mehr, wie es jetzt weitgehend der Fall ist, von der Zufälligkeit der Hautfarbe bestimmt wird; daß in Zukunft die Rasse nur zufällige Tatsache und nicht eigenständiger Wert ist; und daß diese Zukunft möglichst bald Realität wird.

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