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Die doppelte Mauer

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Wir werden noch auf den Verfall der farbigen Familie zurückkommen. Es muß nicht extra gesagt werden, daß Kinder, die ihre Eltern nicht kennen und von frühester Jugend an herumgestoßen werden, ohne sich irgendwo zugehörig fühlen zu können, eine andere Einstellung zur Gesellschaft als behütete Kinder haben.

Auf die Totschläger (immerhin darf man nicht übersehen, daß von 34 Todesopfern 31 Neger waren) und Plünderer von Watts trifft zu: „Erst lasset ihr den Armen schuldig werden und dann überantwortet ihr ihn der Pein.“ Bürgerrechtsgesetze sind in rauhen Mengen erlassen worden, aber sie stehen vorläufig noch mehr oder weniger auf dem Papier. Die selbstzufriedenen Weißen sind nur selten der Tatsache eingedenk, daß bisher nur eine kleine mittelständische Schicht von der Integrierung berührt wurde, und auch diese mehr symbolisch als real.

Die große Masse der Neger wird durch eine doppelte Mauer von der Gesellschaft abgesperrt, durch die Mauer der Farbe und die Mauer der Armut. Die Bewohner von Watts sind nicht nur Farbige, die in ein Getto eingepfercht wurden, in dem sie von weißen Hausbesitzern geschröpft und von weißen Kaufleuten ausgebeutet werden, sondern sie sind auch bettelarm. Man halte sich vor Augen, daß, obwohl die Neger nur 9 Prozent der Bevölkerung von Los Angeles ausmachen, sie 50 Prozent der Fürsorgeunterstützung erhalten.

Kalifornien im allgemeinen und Los Angeles im besonderen hat sich in bezug auf beide Schichten hartherzig gezeigt. Der Staat, nachdem in einer Volksabstimmung das Gesetz gegen die Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt zu Fall gebracht wurde, worauf sich die Gettos schlössen. Die Stadt, als sie einen Bürgermeister wählte, dem Mitgefühl für ethnische oder ökonomische Minderheiten zu fehlen scheint. Vier Tage vor den Unruhen hielt der für die Bekämpfung der Armut zuständige Unterausschuß des Kongresses in der Umgebung von Watts eine Untersuchung ab. Er wollte wissen, warum die Beteiligung der Armen an dem Programm, die dessen Kernstück ist, in Los Angeles nicht zustande kam. Die Zeugen beschuldigten den Bürgermeister und den Stadtrat, den Armen das Mitspracherecht verweigert zu haben. Ein Mitglied des Ausschusses drückte nach der Rückkehr nach Washington seine Besorgnis über die erregte Stimmung unter den Armen aus.

Von elf Bürgermeistern amerikanischer Großstädte waren die Bürgermeister von Los Angeles und von Chikago die einzigen, die an einer von der Bundesregierung einberufenen und bisher ;eheimgehaltenen

Konferenz nicht teilnahmen. Die Konferenz beschäftigte sich mit der Vorbeugung rassischen Aufruhrs. Chikago wurde dann auch der zweite Ort, in dem Rassenkrawalle stattfanden.

Die Bundesregierung kritisiert daher den Bürgermeister von Los Angeles scharf und billigt den Aufständischen zu, daß sie aus reiner, geballter Enttäuschung gehandelt hätten. Ebenso ist die Bundesregierung über das Verhältnis der Polizei zu Armen und Minderheiten in vielen Städten nicht glücklich.

Gerade der Polizeipräsident von Los Angeles hat sich zwar als tüchtiger Beamter einen Namen gemacht, wird aber vielfach beschuldigt, sowohl gegen die farbige als auch gegen die mexikanische Minorität unnötig brutal zu sein. Vor kurzem kam ein Polizist vor ein Disziplinargericht, weil er, entrüstet über die rücksichtslose Behandlung Farbiger seitens seiner Kameraden, sich in seiner Freizeit an rassischen Demonstrationen beteiligt hatte.

Die Wurzeln der Gewalt

Zur Vervollständigung des Bildes muß hinzugefügt werden, daß sich die Soziologen in der Beurteilung der Ursachen der Ausschreitungen nicht einig sind. Manche von ihnen meinen, daß nicht die berechtigten Beschwerden, sondern das Vergnügen eines verbrecherischen Elementes an der Gewalttätigkeit den Ausschlag gab. Auch unter den Weißen nimmt ja die Lust zur Gewalttätigkeit zu. Bezeichnend ist, daß in Los Angeles und Umgebung die Waffengeschäfte nach Beginn der Unruhen in Watts ausverkauft waren.

Die Soziologen stimmen jedoch darin überein, daß solche Ausschreitungen am ehesten dort vorkommen, wo die Stadtverwaltung kein Sozialgefühl hat, wo der Anteil der Neger am Besitz von Grund und Geschäften sowie die Zahl der bei der Polizei angestellten Neger geringer als in anderen Städten ist.

Zum Schluß noch ein Wort über den Zerfall der farbigen Familie. Er droht, wie es in einem bisher vertraulichen Bericht des Arbeitsministeriums heißt, „eine neue Krise in dem Verhältnis der Rassen zueinander“ an. Der Bericht hebt hervor“, daß die Bürgerrechtsgesetzgebung Hoffnungen erweckt hat, die nicht erfüllt werden können, weil die Neger den ethnischen Gruppen, mit denen sie in Wettbewerb treten müssen, nicht gewachsen seien.

Der Zerfall der schwarzen Familie

Der sorgfältig dokumentierte Bericht spürt auf 78 Seiten die Hauptursache dieser Unterlegenheit auf, die Auflösung der Familie. „Drei Jahrhunderte stellenweise unfaßbarer Mißhandlung haben von den Negern ihre Opfer gefordert. Die Beweise dafür, daß die Negerfamilie in den städtischen Gettos zerfällt, sind... außerordentlich überzeugend. Eine Mittelklassenschicht konnte sich retten, aber für ungeheure Mengen der unqualifizierten Arbeiter mit schlechter Schulbildung ... hat sich das Gewebe der konventionellen gesellschaftlichen Beziehungen so gut wie aufgelöst.“

Diese pessimistische Feststellung gründet sich auf Statistiken wie diese: 22,9 Prozent aller farbigen Stadtbewohnerinnen sind entweder geschieden oder von ihrem Mann verlassen worden, verglichen mit 7,9 Prozent für Weiße. Die Auflösung geht aber so schnell vor sich, daß diese 1963 gesammelten Zahlen schon längst überholt sind. Beinahe ein Viertel aller farbigen Kinder sind unehelich, in New Yorks Har-lem waren es sogar 43,4 Prozent. Mehr als die Hälfte aller farbigen Kinder sind zumindest zeitweise in der Fürsorge, verglichen mit 8 Prozent der weißen Kinder.

Der Bericht unterstreicht, daß dieser Zustand seinerseits wieder zu der Aufblähung der Statistik in bezug auf Arbeitslosigkeit, Verbrechen und Rauschgiftsucht führt. Wiederum sind die Kinder aus stabilen Mittelklassenfamilien, die, infolge der Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt, das Getto nicht verlassen können, von dieser Entwicklung bedroht.

Auf Grund dieses Berichtes hat Präsident Johnson für den Herbst eine Konferenz einberufen, die sich mit dem Zerfall der farbigen Familie beschäftigen wird. Für diesen Zerfall, sagte der Präsident, „muß das weiße Amerika seine Verantwortung anerkennen“.

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