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Der dunkle Bruder

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James Baldwin, der größte Negerdichter und wohl auch einer der bedeutendsten Schriftsteller Amerikas, veröffentlichte vor einiger Zeit in dem exklusiven „New Yorker“ einen seitenlangen Brief, der von der „Schlüsselfigur“ Amerikas handelte: vom amerikanischen Neger. Baldwin weiß: die Erniedrigung des Negers ist die Selbsterniedrigung Amerikas. Er erkennt die Umrisse einer amerikanischen Gemeinsamkeit am Horizont. Das Leiden des schwarzen Volksteiles muß, so verheißt er, zum Anteil und zur erneuernden Kraft der ganzen Nation werden — dieses Leiden, das sich nährt aus den Lynchfeuern, Foltern, Kastrationen, Galgenstricken der Vergangenheit und aus der Ghettowelt der Gegenwart und das begreiflich macht, „wie sie haben Kinder hervorbringen können, die imstande sind, auf dem Weg zur Schule mitten durch Mobs zu schreiten“. Amerika ist „kein weißes Land“, erklärt Baldwin, denn auch der Neger ist Amerikaner, der „mit diesem Land überleben oder zugrunde gehen wird“. Die Neger haben die Identitätsfrage der Nation gestellt: Sind die Amerikaner eine freiheitliche, demokratische Nation? Wird im Streit um die Bürgerrechte neben Rückständigkeit und Vorurteilen in der amerikanischen Gesellschaft auch der erstaunliche politische Idealismus in Amerika sichtbar, ein Glaube an Freiheit und Gerechtigkeit, den kein anderes Volk übertrifft? Nicht nur die amerikanische Nation muß die Frage nach ihrer Identität beantworten, auch die Neger müssen auf der Suche nach dem eigenen farbigen Ich, das sich in einem neuen Selbstbewußtsein kundtut, eine Antwort auf diese Frage geben.

„Welchen Namen darf ich tragen?“ nennt Michael Shurtleff seine drei Akte,

die das Rassenproblem in den Vereinigten Staaten, das Zusammenleben zwischen Weiß und Schwarz zur Diskussion stellen und die das Volkstheater, wohl um der besonderen Aktualität willen, als erstes Stück in seiner Sonderreihe „Spiegel der Zeit“ aufführt. Der junge Autor läßt das schwere, zentrale Problem im privaten Schicksal dreier junger Menschen widerspiegeln. Der Student Doug will anders sein als die anderen, im Bewußtsein, daß er sich selber ändern muß, wenn sich die Welt ändern soll. Also lebt er mit dem farbigen Studenten Paul brüderlich in einer Mansarde. Seinetwegen zerfällt er mit der konventionell denkenden Familie und bleibt Außenseiter. Aber ein Mädchen löst den Konflikt zwischen den beiden Freunden aus. In einer tätlichen Auseinandersetzung schimpft Doug seinen dunkelhäutigen Freund einen „gottverfluchten Nigger“. Auch er, der es sich immer „schwer gemacht“ hat, versagt im Ernstfall. Die letzte Aussprache der drei, die der Versöhnung dienen soll, scheitert. Jeder bleibt einsam für sich, wie auf einer Insel, auf der Suche nach dem wahren Ich.

Es bedürfte der dramatischen Kraft eines O’Neill, Arthur Miller oder Tennessee Williams, um dieses Thema auf der Bühne glaubhaft zu bewältigen. Shurtleffs Stück mit seinen flach gezeichneten Charakteren und oft banalen Dialogen reicht für eine Aufführung im Rahmen eines Universitätsstudios. Daß es seinerzeit ein Broadway-Erfolg wurde, mag seinem hochaktuellen Thema zuzuschreiben sein. Im Volkstheater trägt unter der eher konventionellen Regie von Erich Margoder jugendliche Elan der beiden Hauptdarsteller: Klaus Hoering als weißer Student und Georg Lhotzky als Neger über die Flachheiten und Län gen hinweg und erweist sich in den wenigen Momenten dramatischer Ballung als recht wirksam. Gudrun Erfurth als das Mädchen zwischen den beiden blieb (schon von der Rolle her) etwas farblos. Sonst gab es nur wenig ergiebige Nebenrollen: Otto Woegerer als gütiger Vater, Marianne Gerzner als Mutter und (recht gut) Helmut Lex als schwächlicher Bruder. Das Bühnenbild mit der dürftigbunten Mansardenwohnung stammte von Rudolf Schneider-Manns Au. Das eher zurückhaltende Publikum spendete am Ende den Darstellern lebhaft Beifall.

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