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Wie die Griechen vor 2300 Jahren?

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Eines der auffallendsten Phänomene der letzten Jahrhunderte war die Tatsache, daß Europa durch Supermächte in den Schatten gestellt wurde, die von einer modernen Kultur europäischen Ursprungs getragen werden. Diese europäische Kultur verbreitet sich in mehr oder weniger starkem Maße über die ganze Welt — zu einer Zeit, da Europa selber von einem Wall junger Riesen militärisch, politisch und wirtschaftlich überragt und überflügelt wird. Ich muß hier an zwei Beispiele aus der Vergangenheit denken — an die schwierige Lage Italiens am Ende des 15. Jahrhunderts, zur Zeit Macchiavellis, und an die Krisensituation Griechenlands gegen Ende des 3. vorchristlichen Jahrhunderts, als die griechischen Staatenbünde zu keiner Einheit gelangen konnten und sich die beiden wichtigsten Staaten, Sparta und Athen, weigerten, einem größeren Bund beizutreten. In dem einen wie im anderen Fall gab es ein paar weitsichtige Menschen, die erkannten, daß das Zentrum der zivilisierten Welt dringend einer Einigung bedurfte, wenn es nicht überwältigt und von außen beherrscht werden wollte. In beiden Fällen wurden diese Warnungen ignoriert, und es kam zu dem vorausgesagten Strafgericht. Diese Erfahrungen haben ohne Zweifel Relevanz für die Frage einer Erweiterung der EWG. Der Mißerfolg der weitsichtigen griechischen Staatsmänner und Macchiavellis bei dem Versuch, ihren Landsleuten die Augen zu öffnen, gibt uns eine Vorstellung von der Leistung, die Premierminister Heath, Präsident Pompidou, Bundeskanzler Brandt und ihre Ministerkollegen vollbracht haben.

Europa hatte sich selbst entthront durch zwei brudermörderische Kriege, die sich beide zu Weltkriegen ausweiteten. Nach dem letzten dieser Kriege haben die lädierten und in den Schatten gedrängten europäischen Staaten tastend einen Weg zu einem freiwilligen Zusammenschluß auf kontinentweiter Ebene gesucht. Wir hoffen, daß die Zukunft der EWG und damit die Europas jetzt gesichert ist — im Unterschied zu den Ergebnissen der analogen Einigungsversuche im Griechenland des 3. Jahrhunderts vor Christus und im Italien der Renaissance, die zeigen, wie schwierig es ist, mit einer alten Tradition der Uneinigkeit und Rivalität zu brechen. Heaths Prophezeiung, daß Europa jetzt wieder in der Lage sein werde, sich in der Welt Gehör zu verschaffen, klingt realistisch.

Eine weitere denkwürdige Erscheinung unserer Zeitgeschichte ist die Entfremdung. Auch hierfür gibt es bemerkenswerte Präzedenzfälle. Die Griechen wie die Ägypter hatten alte Kulturen, mit denen sie fest verwachsen zu sein schienen; aber in der Zeit zwischen dem 3. und 5. Jahrhundert nach Christus wandten sich die Erben dieser beiden Kulturen von ihrer Vergangenheit ab und brachten dies dadurch zum Ausdruck, daß sie eine neue Religion, das Christentum, annahmen.

Ein ähnliches Phänomen ist die Zersetzung der „klassischen“ Struktur — ein Prozeß, der im 17. Jahrhundert einsetzte und noch bis in die heutige Zeit hinein andauert. Die Zersetzung der klassischen Musik des Westens ist eine wohlbekannte Tatsache. Die klassische abendlän-diche Naturwissenschaft, deren

Entwicklung parallel zu jener der klassischen Musik verlief, hat zur gleichen Zeit dasselbe Schicksal erlitten. In den Naturwissenschaften und in der Kunst zeigt sich unsere Unwissenheit hinsichtlich unserer Zukunft besonders kraß. Erleben wir heute die Liquidation einer Kultur, die ihre Rolle ausgespielt hat? Wird etwas Neuem der Weg bereitet? Oder wird der Prozeß, den wir jetzt beobachten, ein völlig negatives Ergebnis haben? Vielleicht werden unsere Enkel die Antwort hierauf erfahren; wir selbst können sie nicht geben. Eines der Kapitel in dem Buch über unser „Prometheisches Zeitalter“ („The 20th Century. A Promethean Age“ — ein Symposium von Arbeiten prominenter Soziologen, Wirtschaftler und Naturwissenschaftler) trägt die optimistisch klingende Uberschrift „Die Naturwissenschaft wird mündig“. Aber mit am eindrucksvollsten ist das, was der Verfasser über die Nemesis für die Gesellschaft sagt, die sich mit dem Erfolg der Naturwissenschaftler verbindet.

Sie hatten diesen Erfolg anfangs zwei Tugenden zu verdanken: ihrer Objektivität und ihrer Offenheit. Die Naturwissenschaftler hatten sich bemüht, die Wahrheit um ihrer selbst willen zu erkennen und nicht als Mittel zur Erlangung von Reichtum und Macht. Überdies wurden alle Ergebnisse ihrer Forschungen veröffentlicht. Drei Jahrhunderte lang wirkten die Naturwissenschaftler als eine internationale Bruderschaft, unbekümmert um die militärischen und politischen Grenzen, die die Menschheit trennen. Aber heutzutage ist ihre Arbeit für die Rüstung so lukrativ und zugleich so teuer geworden, daß sie in die Klauen der Regierungen geraten sind und sich aus unabhängigen Individuen in Teams von Staatsbeamten verwandelt haben.

Man hat den Eindruck, daß nicht allein den Industriearbeitern und den Studenten, sondern auch den Naturwissenschaftlern die Gefahr der Entfremdung droht. Die Automobilindustrie mag sich rühmen, „einen epochalen Durchbruch in der indu-stirellen Anwendung der Technik“ erzielt zu haben. Vielleicht war es zugleich ein epochaler Zusammenbruch im Leben der westlichen Gesellschaft — ein entscheidender Schritt, der aller Arbeit die Freude und den Stolz nahm, die der Lohn für alles Mühen gewesen waren. Wird die heutige abendländische Kultur und Zivilisation von ihren Kindern verworfen werden? Und läßt sie sich liquidieren ohne eine gleichzeitige Liquidation der Menschheit überhaupt? Die Menschheit hat die Liquidation der alten griechischen und der alten ägyptischen Kultur überlebt; aber diese Kulturrevolutionen hat man zu einer Zeit überstehen können, als der Mensch noch nicht mit den Vernichtungswaffen ausgerüstet war, die ihm die moderne Naturwissenschaft in die Hand gegeben hat. Sollte es der Menschheit dennoch gelingen, den Verfall der abendländischen Kultur zu überleben, dann mag es Hoffnung für unsere Zukunft geben. Vielleicht können wir die großen Segnungen der abendländischen Kultur bewahren und uns von dem Überflüssigen (zum Beispiel der Überfülle an materiellen Verbrauchsgütern) und den Gefahren (wie Atomwaffen, Umweltverschmutzung) befreien.

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