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Wiehnacht im August

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ungläubig, „das kann doch nicht sein."

Schemaja ist nur aus Holz. Schön, schwarzhaarig, rote Pelerine, blaues Wams, Lamm auf der rechten Schulter, Tasche über die linke hängend; schon Nina Marina, Jades Mutter, hatte ihn heiß geliebt als Kind und wahrscheinlich selbst deren Mutter, Madame Aline Hubka als Kind; die Krippe, dazu Schafe und Esel, Maria, Josef und das Kindchen im Stroh waren einzeln oder aus einem unauffindbaren Grund als Ganzes verloren gegangen, Schemaja war übriggeblieben und Jade preßt mit ihm das Ganze an sich und ist dann darin.

Wäre Schemaja indes lebendig gewesen, ein echter Israelit ohne Falsch, hätte er Jade jetzt zurechtweisen müssen. Sie bringe die ganze Geschichte des auserwählten Volkes durcheinander. „Dir ist die Jakobsleiter voller Engel aus Nanas heiligem Buch in die Weihnacht gerutscht, das geht natürlich nicht, Jade."

Aber doch, bei Jade geht das.

„Man kann darauf in den Himmel steigen, auf der Leiter, weißt du."

Da mußte Schemaja nachgeben und sagen:

„Du hast recht, es kann gut sein, was du gesehen hast, warum soll ein Engel keine Leiter in sich haben?"

Es war nicht nur die Jakobsleiter. Jade hatte doch Kranführer Matter in seine Kabine hinaufsteigen sehen, am Nachmittag, auf der Teertonne. Mütze links in der Hand, Flasche rechts in der Hand, stieg er auf der Eisenleiter seiner Ala 3 hinauf, und er winkte herunter mit der Mütze, den zwei Kindern zu, bevor er im Kranherz, wie er die Hängekabine nannte, verschwand.

Die Nacht ist ja doch dazu da, alles ineinander zu sehen, wunderschön zu vertauschen und zu verwechseln, mit sich selbst oder jemand, der nicht da ist oder der nicht sprechen kann, zu besprechen, bis der Augenblick kommt, wo alles in Traum übergeht.

So stand Jade denn mit Schemaja gleich darauf vor dem goldenen Kranengel am Fluß. Sie hielt ihren Hirten fest an der Hand, denn jetzt sahen sie beide, das Kind und der Hirt: Wahrhaftig, der war durchsichtig; man sah, die ganze Welt war in ihm. Berge und Meere und Städte.

„Paris", sagte Jade und zog Schemaja zum hohen herrlichen Wesen hin, „da, er hat Paris in sich."

Und richtig, da hatte der Engel Papas Atelier in sich, und da saß er, Jades Papa, und malte Und malte.

„Papa", rief Jade und sie ließ Schemaja los, um in den Engel zu laufen, hinein, nach Paris im Engel.

Aber Papa nahm das Bild, die Maltöpfe, die Pinsel, alles nahm er mit sich und stieg im Engel hoch, die Treppe hinauf, bis ins Kranherz des Bauführers Matter. Dann winkte er mit der Mütze, und dann war es Herr Matter oben im Kran.

Madame Hubka schrieb Manuel Fernand nach Brüssel, unter Vermerk: „Wenn abgereist, bitte nachsenden", sie sei leider völlig außerstande, seinen' Wünschen nachzukommen. Was indes Jadewig, Ninas Tochter, betreffe, habe sie bedauerlicherweise selbst als deren Großmutter kein Recht, sie seinen Dispositionen zu entziehen, da Großmütter, soviel sie in Erfahrung gebracht habe, in Fällen von Scheidungswaisen juristisch überhaupt nicht zählten.

„Ich kann Sie", so schrieb sie, „nur anflehen, lieber Monsieur Fernand, der armen, unendlich geliebten Tochter Ninas, Jadewig ihren kindlichen Frieden und meiner mütterlichen Obhut zu belassen. Sie ist ein außerordentlich differenziertes Kind" — schwierig wollte sie nicht schreiben —, „und", fügte sie mit energischen Schriftzügen abschließend bei: „ich versichere Ihnen, die Probleme beginnen da, wo Sie, Monsieur, in Jadewigs Leben einzudringen versuchen."

Am Nachmittag sitzt Jade wieder auf der Teertonne und Roy wie gestern auf der Betonröhre daneben.

Jade sagt: „Mein Vater ist ein Maler."

Roy darauf: „Mein Vater ist Kranführer. Das braucht gescheite Leute, hat mein Vater gesagt."

„Er malt phantastisch." Jade hatte Lona zu Minette sagen hören, ihr Vater sei ein Phantast.

„Ach", lächelt Roy, „mein Vater kann ganze Häuser in die Luft heben."

„Ganze Häuser?" Jade staunt. „Und dann?" Sie betrachtet Matters Ala 3 vor sich, am Wasser.

„Oh, nichts weiter, er kann sie irgendwo wieder hinstellen, irgendwohin tragen, wohin er will, nach Frankreich zum Beispiel. Sssssssummmmmmmm ...!" Und Roy dreht sich mit ausgestrecktem Arm rundum auf der Röhre.

Jade sieht, wie die Ala 3 Nanas Haus aus dem Garten hochhebt und über den Fluß hinter dem Wald ins Meer stellt.

„Ist ja verrückt."

Roy strahlt.

Auf dem Areal gehen Motoren an. Laster fahren heran mit Brettern, Männern und Maschinen. Roy stellt sich auf seine Röhre, um alles zu sehen.

„Ein Engel kann auch Häuser hochheben, wenn er will, ganze Städte, die ganze Welt, das kann er. Hochheben und wegdrehen, wohin er will", sagt Jade.

„Ein Engel hat aber keinen Strom in sich", entgegnet Roy von seiner Röhre herunter. Aber Jade fährt versunken fort:

„Er kann auch Paris hochheben und forttragen, nach Deutschland oder 50, und dort wieder hinsetzen, weißt du."

Roy sieht angespannt nach dem Schuppen.

„Er könnte auch Papa mit seinem Atelier aus Paris hochheben und dahertragen, auf die Wiese daher."

Roy steht sprungbereit auf dem Rücken der Röhre, für den Augenblick, da sich die Türe in der Bretterwand da draußen öffnen sollte.

Aber Jade kommt nicht mehr aus ihren Gedanken herauf.

„Wenn doch, wie ist das? Die Weihnacht ist ja doch auf der ganzen Welt, da ist der Engel auch auf der ganzen Welt und kann alles hochheben, hinein..."

Weiter geht es nicht. Wohin hinein?

„Hoj!" schreit Roy, springt von der Röhre, „Hoj, Vater", und läuft auf Matter zu, der aus dem Schuppen tritt. Eine Wolke steigt aus der ausgetrockneten Böschung hoch, über die er hinunter ins Baugelände rennt.

Da klettert auch Jade eilig von der Tonne auf die Röhre und von dort auf den Boden und läuft hinter Roy her auf die Ala 3 zu, wo Matter die Kinder erwartet.

„Wollt ihr mit hinauf?"

Wie?

„Ja, auf meine Ala 3."

„Bis zuoberst?" flüstert Jade.

„Bis in meine Kabine, bis ins Kranherz."

Roy ist bereits fünf Stufen hoch im Gestänge und Jade beginnt, bebend vor Spannung, das Geländer umklammernd, ihm nachzuklettern.

„Laß los, Meitja, ich trag dich", sagt Kranführer Matter hinter ihr und hebt sie hoch auf seine Schulter. Und er trägt das Kind in seine Kajüte hinauf, wie Schemaja sein Lamm in den Stall zu Bethlehem.

Nachts ist es schwüler als je zuvor im August. Lona hatte die Türe zwischen Jades und Nanas Zimmer schließen müssen, sie schläft immer so schlecht jetzt, Madame, das kleinste Geräusch nebenan kann sie stundenlang wach halten. Dafür durfte die Verandatüre halb offen stehen, unter der Bedingung, daß unten, gegen den Garten, alles gut gesichert war, und Lona hatte Jade auch Schemaja wieder gebracht.

Madame Hubka wünschte aber, daß das Mädchen jeweils vor neun Uhr abends, wenn sie sicher war, daß Jade schlief, ihr die hölzerne Krippenfigur entwende. „Sonst stößt sie sich daran im Schlaf, oder der Hirt poltert zu Boden, kaum bin ich eingeschlafen." Aber Lona vergaß das leicht.

Kaum ist das Licht ausgedreht, beginnt Schemaja das Gespräch:

„Jade, wie ist es, hast du gebetet?"

„Noch nicht."

„So bete."

Und Jade beginnt:

„Lieber Gott, Herr Matter hat mich auf den Kran hinauf getragen, denke Dir. Laß los, hat er gesagt, ich trag dich.

Dann war ich zuoberst im Kranherz von Herrn Matter. Er hat Roy und mir alles erklärt. Ich weiß, wo man den Strom einläßt."

Jade kommt nicht weiter. Die Erinnerung ist übermächtig.

„Ist das alles wahr?" fragt Schemaja. Er muß vergessen haben, daß Jade mit Gott sprach.

„Die Ala 3 kann Häuser hochheben", sagt Jade. „Im Engel ist aber auch Strom, er kann alles in sich hineinheben, was er nur will."

„Das stimmt", bestätigt der Hirt in ihrem Arm.

„Er hat Paris in sich, er hat Papa in sich, und wenn er auf dem Bauland steht, ist Paris da und Papa ist da und alles ist da." So sieht Jade das.

Vom Fluß herauf kam Harmonikamusik. Matters Fischerklub feierte seinen zehnten Gründungstag und Matter wurde zunehmend fröhlichen Gemütes. Nach Mitternacht stand er auf, winkte mit der Mütze Ruhe im Raum, und die Fischer glaubten, er wolle wieder eine Festrede halten. Aber Matter sagte lächelnd und tränenden Blickes zärtlich und wie in der Kirche mit hörbarer Andacht: „Meine hochedlen und geliebten Klubbrüder, war da heute so eine kleine Meitja auf dem Bau, Madames Großkind aus der Villa Hubka, war da so ein Mädelchen mit Augen, das mir sagte: Matter, dein Kran ist nachts ein Engel und dahier ist die Weihnachtsweide und dort ist der Stall, sagt es mit so Augen zu mir und" — Matter schluchzte — „ im Stall sagt sie, sagt es, da liegt..."

„Hör auf Matter", riefen sie und lachten von allen Seiten, die Fischer, „setz dich, noch eine Flasche Weißen her für Matter."

Sie waren alle noch nicht so fröhlich, daß sie weinten.

Aber Matter hockte dann stumm vor seinem Glas. Hierauf mußte ihm etwas eingefallen sein. Er erhob sich und ging, einmal ein wenig zuviel nach rechts, dann ein bißchen zuviel nach links, ging hinaus, den Uferweg nach zum Areal der Straßenbau & Zement AG hinüber. Er hatte aber bloß den Hausschlüssel nicht in seiner Tasche und hatte sich gesagt: „Der liegt in meiner Kajüte."

Sichtlich behindert, kletterte er, sich dem Geländer im Gestänge nach hochziehend, zur Türe der Krankabine, fand schließlich auch den Schlüssel zum Patentschloß daran und trat ein. Er machte Licht und hockte sich auf seinen Führersitz, um sich alles zu überlegen. Aber es fiel ihm nicht mehr ein, warum er auf seine Ala 3 gestiegen war. Es mußte ihn übernommen haben, die Weihnacht der kleinen Hubkameitja, der Kranengel, die zementenen Schafe und ihre Augen und „Papa" hatte sie geflüstert an seinem Hals beim Hinauftragen, wo er doch immer so ein Mädelchen hätte haben wollen.

Alles Gedanken und Gefühle, die Matter nur bei einem Klubfest bedrängen konnten, nach Mitternacht meist und wenn er schon sehr heiter geworden war vor Fröhlichkeit.

Manuel Fernand nahm das Nachtflugzeug und stand morgens um drei Uhr vor Madame Aline Hubkas Haus, nur wenig später nach Ankunft seines Briefes. Eine Stunde stand er davor. Dann ging er zur Brücke hinüber.

Der Mond verströmt solch einen Glanz über Himmel, Gelände und Wasser, daß er mit einem Mal keinen Schritt mehr zu tun vermag und wie betäubt im Eisengeländer lehnt. Das Wasser flackert unten um die Brückenpfeiler, silbernes Feuer flackert den Fluß daher und der Gestängeschatten flackert mit darin. Fernand sieht seinem Schatten zu im brennenden Wirbel, da hinab, Sprung vom Geländer und Schluß.

Vor ihm der Kran, er sitzt genau auf seiner Schattenspitze, haarscharfer Gliederschatten.

Fernand beginnt die Schattensprossen zu zählen, nicht Fernand, jemand, etwas in Fernand, denn Fernand ist entschlossen zu springen, mit Jade.

Er hatte den Hausschlüssel immer bei sich getragen, er kennt das Haus, weiß wo Jade schläft. Wird über die Veranda einbrechen, wenn nötig Türen und Fenster einschlagen, das Kind holen und los, hinaus nach der Brücke, nicht allein, mit Jade, Schluß machen, sie ist zu zart für das Leben, sie hätte die Hölle allein.

Fernand springt auf, aber da greift es nach ihm: der Kran. Auf seinem Arm sitzt die Mondkugel und versilbert das ganze Gestänge. Ihr Silber fällt die Holme herab, durchsichtige Seide, Voile, meergrün, alles so unsäglich meergrün, meergrüner, jadegrüner Schnee auf den Latten und Brettern, ja.. jade.. jetzt ist es aus, er muß malen.

Er hat alles noch bei sich, Skizzenbuch, Kreiden, wie außer sich reißt und wirft er heraus, was in ihm schmilzt und zerfließt unter der süßen Mächtigkeit dieser Nacht am Fluß.

Und Manuel Fernand wandelt, verwandelt alles, was ist um ihn her, in sein Bild, dieses Bild der Wirklichkeit bringt ihren Urgrund herauf, die allem in ihr verborgene Botschaft: Der Kran wird zum Engel, der Schuppen zum Schober, der Fluß ein Lichtstrom, die Röhren zu weißen wolligen Tieren, o Gloria, Gott ist da.

Manuel erwacht, erhebt sich, starrt nach dem Kran, geht auf die Leiter zu. Ein Vogel ist es nicht. Auch kein Hund. Dann sieht er, es ist ein Kind. Fast oben. Jetzt verschwindet es in der offenen Kabine. Das rote Licht der Glühbirne aus Matters Kranherz schießt über die Eisenleiter herunter und Fernand ist mit sieben, acht Sätzen an der Rampe. In der offenen Helle der Kabine, zwischen Hebeln und Schaltknöpfen steht — Nina! Herrgott! — Nina Marina!

„Papa ist auch im Engel", sagt schüchtern das Kind, sein Kind, Jade. Eine hölzerne Puppe im Gummizug seines Schlafkleidchens, schaut es den Mann an. Ist das Herr Matter? Aber nein, das ist Papa, sie hat es gewußt, er ist im Engel, ihr Papa, oben im Kranherz.

„Weihnacht im August" hieß Manuel Fernands Gemälde, und dreißig, siebzig, hundert weitere Werke gebar es, dieses seltsame Bild mit der Krippe auf dem Kran, das Kind im Stroh, Maria und Josef zwischen den Hebeln und Schaltknöpfen über dem Areal der Straßenbau & Zement AG.

Hatte Nina Marina nicht bis zuletzt mit Weihnachten gerechnet? Die junge Maria im Stall auf dem Kran trägt ihr Gesicht.

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