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Weihnacht im August

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Die Erzählung der Schweizer Ordensfrau gewann ei-* nen der fünf Preise des von der FURCHE und vom Verlag Styria veranstalteten Wettbewerbes für „Christliche Literatur".

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Die Erzählung der Schweizer Ordensfrau gewann ei-* nen der fünf Preise des von der FURCHE und vom Verlag Styria veranstalteten Wettbewerbes für „Christliche Literatur".

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Es gibt diese Maler wie Manuel Fernand, die selbstverzauberten Manuel Fernands. Sie sind eines Tages nicht mehr imstande heimzukehren. Es gibt aber auch Frauen wie Nina Marina, Fernands Frau, die es schließlich aufgeben, ihrem Mann nachreisen zu wollen, nachdem sie ihm von München nach Paris, von Paris nach Florenz, daraufhin nach Haiti und zurück in die Provence gefolgt sind, und die dann im Haus ihrer Mutter, wie Nina zum Beispiel, hoffnungslos gläubig darauf warten, daß er zurückkommen wird.

Noch im dritten Jahr ihrer "Verlassenheit voll Zuversicht, erzählte sie ihrem kleinen Mädchen die Weihnachtsgeschichte schon im August, weil Papa dann nämlich heimkommen wird, wenn Weihnachten ist.

Zum Glück gibt es auch immer noch diese kleinen Villen im Jugendstil außerhalb der Stadt mit lila Fliederbüschen im Frühling, sommerlangem roten Phlox und mit einer alten Dame mit Köchin oder Stundenfrau, die ihre Enkelin zu sich nimmt, solange die Dinge im Haus ihrer Tochter oder ihres Sohnes juristisch nicht geregelt sind.

Oder aber, wenn gar, wie im Fall von Madame Hubka, deren Tochter Nina Marina, die Mutter der kleinen Jadewig Fernand, an ihrem bis zuletzt umklammerten, hoffnungslosen Glauben stirbt. „Bis zuletzt hat Sie mit Weihnachten gerechnet", hatte Frau Göhl damals zu Lona gesagt.

Frau Göhl, Madame Hubkas Stundenfrau, die bei ihr putzt, wäscht und bügelt und, wenn die Köchin ihren Alle-vierzehn-Ta-ge-Urlaub nimmt, auch kocht, ist zwar der Meinung, viereinhalb und dreiundsiebzig sei kein Zustand auf die Dauer. „Der Abstand ist zu groß", sagt sie, „und die Erziehung geht doch heute völlig andere Wege, ja keinen Druck aufs Kind, und wenn man außerdem bedenkt, aus dieser Ehe", sagt sie, „woher hat das Mädchen denn seinen Dickschädel und dieses, dieses Verwunschene, wenn nicht vom Müssiö, dem Phantasten. Dem seine Bilder sehen mit einem einzigen Blick", sagt sie, „genügt, man ist im Bild, man versteht, mit der armen Nina Marina mußte es kommen, wie man sagt", hat Frau Göhl gesagt, sagt Lona, die Köchin zu ihrer Freundin Minette, die im Einkaufscenter die Kasse bedient, „ein Phantast, dieser Mensch".

Und da Frau Göhl außerdem bei Dr. Beckers, bei Laumanns und Frau Prof. Rittmeyer wäscht, bügelt, putzt und aushilfsweise auch kocht, sind die Damen in den kleinen Villen alle überzeugt, Madame Hubka sei durch die kleine Fernand, Nina Marinas Kind, eindeutig überfordert.

Zum Unglück für Frau Hubka kann dann ihre Stundenfrau auch nur noch zwei Nachmittage in der Woche kommen, wo doch Lona den Sommer durch schon mindestens zweimal im Monat heimfahren will, .jeden zweiten Freitag, Frau Hubka, bis am Montag früh, das Dach wird renoviert", sagt sie, ihre Mutter habe doch den Arm gebrochen vor zwei Wochen, dabei sei die Kornernte und zwei von den Schweinen bekämen außerdem Junge.

„Du kannst Lona anrufen", „Nana", sagt Jadewig Fernand im kleinen blauen Salon, vor dem Frühstück. Nana: so nennt sie die Großmutter.

„Wozu soll ich Lona anrufen?"

„Sie soll mir ein Ferkelchen heimbringen, ein Ferkelchen."

„Aber doch kein Ferkelchen, Jadewig, was fällt dir ein, ein Schwein!"

Jade besinnt sich. Jetzt hat sie wieder die hellen Augen ihres Vaters mit dem dunklen Traumblick ihrer Mutter darin.

„Vielleicht, vielleicht wird das Ferkelchen krank, Nana."

„Warum krank?"

Madame Hubka sieht durchs Erkerfenster. Richtung Fluß.

Was ist denn das?

„Wenn man es seiner Mutter wegnimmt."

Es ist so. Der gelbe Kran steht jetzt an der Flußbrücke, am Rande des Geländes, das an ihren Garten grenzt.

Es gibt dieses, den inneren Frieden der kleinen Villen, besser, deren alten Damen zunehmend bedrohende Gespenst des Landverkaufs ihren Traumgärten nach. Für Grünzonen, gut, sehr gut, für Grünzonen, aber nicht, unter gar keinen Umständen, an eine Baufirma.

Also doch. Lona hatte nämlich im Einkaufscenter von Minette erfahren, das Terrain neben Hubkas habe jetzt doch die Straßenbau & Zement AG für einen großen Lagerhauskomplex gekauft.

„Wenn ich das Ferkelchen nicht haben darf, kann ich dafür Sche-maja haben, Nana?"

Jade schleppt einen Schemel herbei, um sich daraufzustellen, zwischen die Levkojen hinein, um auch durchs Erkerfenster nach der Flußbrücke zu sehen. Denn Nana sieht seit Wochen vor dem Frühstück nach der Brücke.

Zweifellos, die Sache ist entschieden. Bauland, nicht Grünzone. Madame Hubka hatte es geahnt, befürchtet, von sich gewiesen, für unmöglich gehalten, aber jetzt steht der Kran an der Brük-ke. Lagerhäuser, keine Silberbirken. Röhrendepots, Asphaltküchen und Teertonnen. Nichts von Kerbelwiesen.

Dafür Staub und Gestank, der Lärm der Laster und dann die Leute, diese Lagerhausleute, diese Baufirmentypen, ah, non, mit ihrer Gewohnheit zu schreien, was von den Maschinen kommt, aber ja doch unerträglich ist ihrem roten Phlox entlang, ihrem Flieder nach, neben ihrem geliebten Rosenrondell, und die Aussicht vom Gartenhaus über die Felder, die Kornfelder im Sommer —

Alles in allem, der ganze zeitgemäße, für diese kleinen Phlox-und Fliedervillen gottlose Betongreuel steht jetzt, durch Madame Alaine Hubkas Salonfenster gesehen, in jenem gelben Kran, zwar noch atomar eingekapselt, aber doch schon lautlos dröhnend und unaufhaltsam da.

„Ich seh den Engel, Nana" sagt Jade zwischen den Blumentöpfen, das Gesicht an die Scheibe gedrückt. Aber die alte Dame muß sich setzen, sie fühlt sich elend vor Erbitterung.

„Ich seh Schemajas Engel an der Brücke stehen", wiederholt Jade, „komm, schau, Nana!"

Doch Madame Hubka sitzt an ihrem Frühstücktisch, vor sich die japanische Teetasse, umlagert von Zementröhren, Kieshaufen, Teertonnen, Baggern und Kranen, diesen roten, grünen und gelben Teufelstürmen, wie der überhohe, der jetzt unten steht, am Fluß.

„ — er streckt den Arm aus und sagt zu Schemaja: So lauf doch, lauf in den Stall, so lauf doch endlich mit all deinen Schafen in den Weihnachtsstall."

Einmal, zweimal ruft Madame Hubka schwach, mit einem Seufzer dazwischeh:

„Komm jetzt, trink deine Milch, was habe ich gesagt?" Beim dritten Mal hat sie Jade vom Fenster geholt, nicht ohne mit ihr zusammen auch einen Topf mit Levkojen, an den sich Jade schreiend geklammert hatte, vom Gesims zu reißen.

„Er singt doch... er singt doch!" schreit Jade und bricht in Schluchzen aus, „ich hab ihn, hab ihn gesehen,... hab ihn doch ... er singt doch ... der Engel!"

Am Nachmittag kommt Roy, um Jade abzuholen. Er wohnt in der Zufuhrstraße zum Villenviertel, ist nicht viel älter, nicht viel

größer als Jade und macht Frau Hubka einen guten Eindruck, ein netter Junge. Roys Vater ist Kranführer bei der Straßenbau & Zement AG.

Kranführer Matter, ein zuverlässiger Mann auf dem Bau, trinkt nur ganz selten zuviel und wird dann eigentlich nur sehr fröhlich davon. In einem solchen Fall von sporadischer Heiterkeit konnte er, allerdings mit Absicht, wie er morgens jeweils betont, seine Hängekabine offen stehen lassen, oder dann löscht er die Lampe an der Kranrampe nicht aus mit der Begründung, seine Ala 3, so nannte er seinen gelben Dreh- und Ladeturm, sei ihm so treu, daß sie nichts passieren lasse, sie verweigere jeder Manipulation eines Unbefugten den Gehorsam.

Denn im Ablauf einer der termingemäßen Festivitäten des Fischerklubs, dem Matter angehört, konnte er in eine derartige Hochstimmung geraten, man denke: Blaufelchen, Silberforellen oder Dorsche mit viel gutem Weißwein und ebenso guter Musik aus Matters Harmonika, daß ein solch übertriebenes Vertrauen in einen Kran in ihm nicht nur keine Unruhe weckte, sondern er geradezu davon getragen war, sodaß er zwischen Fisch, Wein und Musik seine Ala 3 immer von neuem hochleben ließ, was seine Stimmung noch erheblich steigerte und befreite.

Er liebte Ala 3, seine dritte Ala, und warum soll Matters Kran nicht Ala heißen? Jedes Schiff heißt irgendwie, jeder Gaul, und Ala 3 das klang nach einem neuen Flugzeugtyp und paßte demnach gar nicht schlecht für die schlanke Eisenkonstruktion wie Matters Kran. Seine Frau wußte, daß er ihr einen ganz kleinen Teil seiner Zärtlichkeit entzog, um sie Ala zu schenken, aber sie war eine Frau,die das verstand. Matter selbst hat vergessen, wie er auf „Ala" kam, er verstand kein Latein und das war genau genommen der Grund. Denn darum hatte er im Kreuzworträtsel seiner „Blauen", das war seine Fischerklubzeitung das Wort mit drei Buchstaben für „Flügel, lateinisch" im Auflösungsregister nachsehen müssen. Für „Flügel lateinisch", stand da: „Ala."

Jade sitzt auf der Teertonne, Roy auf der Zementröhre daneben, unten an der Brücke, im Schatten ihres Gewölbes. Das Wasser fließt träge, es ist heiß. Sie können aber sehr wohl alles sehen, was im Baugelände geschieht, der Kran bewegt sich immer noch nicht; so warten sie.

„Die Ala 3 ist der schönste und höchste Kran, den es gibt", sagt Roy.

Jade betrachtet den Kran.

„Ala heißt Flügel."

Jade nickt. „Jaja, er hat Flügel. Ich habe es gesehen, heute morgen, der Kran ist ein Engel."

„Die Ala 3 ist aber kein Engel", erklärt Roy.

„Ich habe es gesehen, ganz sicher, er ist der Engel Schemaja, du kannst es glauben oder nicht."

„Das glaube ich nicht. Ein Kran kann kein Engel sein. Ein Kran ist ein Kran, und ein Engel ist ein Engel, fertig."

„Er hat mit dem Arm so nach dem Bauschuppen gezeigt, so—im Schuppen ist nämlich die Weihnacht."

Roy fängt an auf seiner Röhre zu reiten. Bein rechts herunter, Bein links hinunter, er reitet, erst langsam, dann im Trab, dann Galopp, dann wie verrückt; er schnalzt mit der Zunge, den Kopf tief auf den Fäusten, die halten die Zügel, er reitet auf seiner Zementröhre über das Bauland, über den Wald, über die Berge, wunderbar.

Jade auf der Teertonne, die Stiefelchen querüber, die Fußgelenke mit ihren Händen umklammert, sitzt da wie ein Frosch, sie paßt genau in den Deckel.

„Ich habe ihn gesehen heute morgen. Da stand er, da" — Jade deutet mit ihrem Kinn rundum — „auf der Weihnachtsweide da, wie aus Gold, wie aus Licht. Da ist ja doch die Weihnachtsweide. Die Röhren sind die Schafe, die liegen schon da und schlafen. Jetzt kommt dann Schemaja von Mansweil herauf, um zu sehen, ob sie schlafen oder nicht, er kommt nämlich von da drunten, von Bethlehem, weißt du. Dann geht er zum Birnbaum dort, bei den Ausmeßstangen, und schläft, und alles ist still, und auf einmal steht der Engel da und singt: Gloria, o Gloria, singt er."

Roy ist inzwischen in Amerika angekommen, aber das genügte.

„Der Gaul muß in den Stall", sagt er und lenkt ihn mit den Sporen in die Box.

„Gloria, o Gloria" singt Jade auf ihrer Tonne, und Matters goldener Ladeturm, ganz nah- überm Wasser, ist wieder ein Engel.

„Die Weihnacht ist aber nicht im August", sagt Roy.

„Nicht im August?"

„Nein. Die Röhren sind auch keine Schafe."

„Wenn sie keine Schafe sind, dann sind sie auch kein Pferd."

Bis der Uberlandbus von Mansweil heraufkam, durften sich Jade und Roy auf dem Stapelplatz an der Brücke zwischen Röhren und Tonnen tummeln und Matter zusehen wie er mit seinem Ala die schweren Sandbehälter hob und im Bogen wegtrug und ausleerte. Und zwischen den Ausmeßstangen sahen sie schon die Bagger fahren, hin und her, hin und her.

Aber dann, wenn der Bus von Mansweil kam, mußten sie nach Hause.

„Was habe ich gesagt, Jade, wann müßt ihr heimkommen?"hatte Nana gesagt.

„Wenn der Uberlandbus von Mansweil___"

„Richtig. Aber denk daran."

Als Frau Hubka abends von der Bank nach Hause kam — jeden zweiten Freitag hatte sie auf der Bank zu tun — fand sie Fernands Brief aus Brüssel unter ihrer Post. Daraufhin schloß sie sich in ihrem Salon ein, und Frau Göhl sagte zu Lona: „Wenn sie sich einschließt, dann hat der Müssiö geschrieben, dann will er entweder Geld oder herkommen."

Und so lief in den nächsten Tagen die sichere Nachricht im Villenquartier um, jedenfalls wußten es Frau Dr. Becker, Frau Laumann und Frau Prof. Rittmeyer: Manuel Fernand kommt. Er hat in Paris Bankrott gemacht und will jetzt im Haus seiner Schwiegermutter ein Atelier einrichten. Madame Hubka hat ihm aber kategorisch erklärt: kommt nicht in Frage.

Lona hat Jade zu Bett gebracht, aber Jade will den Schemaja haben.

„Sag Nana, ich sollte auf alle Fälle den Schemaja haben, heute Nacht, Lona."

Madame hatte sich indes bereits zurückgezogen, der Kran an der Brücke, und der Brief aus Brüssel, jedes für sich zuviel. „Valium kommt nicht in Frage, Melissentee mit Honig, Lona, und Ruhe, nur Ruhe, tun Sie das Kind zu Bett und bitte nachsehen, ob die Terrassentür geschlossen ist. Wie, was ist? Ich bin nicht zu sprechen, verstehen Sie — Schemaja, ach, wenn sie etwas will, so will sie es, man wird nie fertig. So holen Sie ihn in der Vitrine, aber jetzt Schluß; ich bin sterbensmüde und bitte, auf alle Fälle die Terrassentür -"

Lona hatte Jade die hölzerne Krippenfigur aus Madames Salonvitrine gebracht, und Jade preßt sie an sich. Schemaja am Morgen, Schemaja am Abend und mit Schemaja am Herzen ist selige Nacht über Bethlehem für sie.

„Du siehst sehr hübsch aus, Schemaja, in deiner roten Pelerine", eröffnet Jade das Nachtgespräch.

„Du siehst auch sehr hübsch aus in deinen blonden Locken, Jade, sehr hübsch" sagt Schemaja ritterlich darauf.

„Schlafen deine Schafe schon auf der Weihnachtsweide?"

„Natürlich."

„Weißt du, daß ich heute den Engel gesehen habe?"

„Nicht möglich."

„Er steht an der Brücke unten, auf dem Bauland und singt."

„Das kann doch nicht sein, Jade."

„Wenn ich doch sage. Auf dem Bauland. Wo die Zement AG Häuser darauf baut. Im Bauschuppen ist ja doch die Weihnacht."

„Wie sieht denn der Engel aus?"

„Er ist durchsichtig."

Schemaja schweigt ein wenig vor Staunen. Dann hat er einen Einfall.

„Was meinst du, sollten wir da nicht hinlaufen, jetzt?"

„Ich sag dir etwas. Wenn Nana schläft und wenn Lona schläft, und wenn es ganz finster ist im Garten, dann stehen wir auf und gehen auf den Zehenspitzen über die Veranda die Treppe hinunter und hinaus, kein Mensch sieht uns, alles schläft, und wir laufen die Straße hinab über die Röhren in den Schuppen, und da ist dann Jesus, und Jesus ist der Retter."

„Jawohl, Jade", sagt Schemaja, „das machen wir."

Jade ist überwältigt. Eine Weile weiß sie nichts mehr zu sagen. Aber dann muß sie Schemaja über die Leiter ins Bild setzen.

„Der Engel hat eine Leiter in sich, Schemaja."

Das darf Schemaja aber wieder nicht glauben. Das ist Jades Gesprächstrick. Sie will, daß er ihr widerspricht, damit sie ihn ein wenig zurechtweisen kann, wie Lona und Nana, wenn sie widersprechen.

„Eine Leiter?" fragt Schemaja

Fortsetzung auf Seite 14

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