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Digital In Arbeit

Wohl versorgt mit Toten

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Österreich ist, erfreulicherweise, keineswegs eines jener Länder, in denen es pro Tag zehn Tote oder auch ein Dutzend auf dem Bildschirm gibt - wie in der Bundesrepublik. Oder gar 40 Tote wie auf Japans Bildschirmen. Ganz zu schweigen von den rund 240 Toten pro Tag in den amerikanischen Fernsehprogrammen. Aber auch bei uns kommt es auf ein paar Tote oder Hiebe (oder ein zerschnittenes Gesicht, wie in der letzten „Durbridge“- Folge) mehr oder weniger nicht mehr an.

Und je geringer der Anteil selbstproduzierter Programme am gesamten Femsehbrei wird, um so hilfloser sind wir dem ausgeliefert, was die internationalen Femsehfilmproduzen- ten für schick, zugkräftig oder gewinnbringend halten.

Das alte, leidige Thema „Gewalt im Fernsehen“ ist also nur noch in einem internationalen Zusammenhang zu behandeln. Auch auf Österreichs Fernsehschirmen tragen die meisten Leichen unsichtbar die Herkunftsbezeichnung „made in Germany“ oder „made in USA“. Dies macht es so schwer, der Welle der Gewalt im Fernsehen in einem Land beizukomnaen. Aber man muß natürlich wissen, was man will. Und was man nicht will.

Wollen wir in Österreich Gewalt auf dem Bildschirm? Unsere Programmmacher wollen jedenfalls nicht zu viel davon, vor allem nicht in Nachmittagsund Vorabendprogrammen, also wenn besonders viele Kinder vor den Bildschirmen sitzen (denn Tageszeiten, zu denen überhaupt keine Kinder femsehen, gibt es auch in Österreich längst nicht mehr). Anderseits: Zu einem Gewaltverzicht, der Morde und andere Brutalszenen im Femsehen nur dann zuläßt, wenn gewichtige Gründe dafür sprechen (auch künstlerische - der „Seewolf1 wäre dann wohl, als Grenzfall, zu akzeptieren gewesen), konnte sich bisher weder Österreich noch ein anderes Land durchringen.

Obwohl seit Jahren eine hitzige internationale Diskussion über die Auswirkungen von Gewalt und Brutalität im Fernsehen im Gang ist und die Lobby derer, die für einen Gewaltverzicht wären, wächst, führt die (von optimistischen Beobachtern registrierte) Besinnung der Programmacher und Regisseure höchstens dazu, daß uns die schlimmsten Exzesse erspart blei- , ben. Am Gesamtbild eines Fernsehens, das die Realität der Gewalt in unserer Gesellschaft nicht nur registriert, sondern zu seiner eigenen macht, ändert sich kaum etwas.

Daß sich die Experten nicht einigen können, ist selbstverständlich - es prallen ja nicht nur Lehrmeinungen (und dies oft sehr heftig!) aufeinander, sondern auch kommerzielle und sonstige (aber welche?) Interessen. Daher ist ein Konsensus der grundsätzlichen Gegenpositionen nicht zu erwarten. Es bleiben die einen dabei, daß das Sehen von Gewalttaten im Fernsehen sehr wohl die Bereitschaft erzeugen oder wenigstens verstärken (oder zumindest latente Dispositionen aktivieren) kann, Gewalttaten zu begehen oder zu dulden. Und sei es nur im Sinne einer Wirkung auf bestimmte Gruppen - Jugendliche mit hohem Aggressionspotential, Milieugeschädigte. Und es bleiben die anderen dabei, daß Gewaltdarstellungen eine katharti- sche, „ableitende“ Funktion haben, und keineswegs geeignet seien, zur Erhöhung des Potentials an Aggression, Gewalt und Brutalität in unserer Gesellschaft beizutragen.

Das sich als Fazit aus jahrelangen Diskussionen und jahrelanger expe rimenteller Arbeit negative Auswirkungen von Gewaltdarstellungen im Fernsehen zwar nicht beweisen, aber auch nicht ausschließen lassen, läge es nahe, jene Konsequenz zu ziehen, die in vielen anderen Bereichen selbstverständlich ist: der Verzicht. Denn die Versorgung mit Leichen ist weder Menschen- noch Konsumentenrecht.

Alle Argumente gegen eine Gewalt- und Brutalitätsabstinenz des Fernsehens lassen sich auf zwei Sätze zurückführen. Der eine lautet: Das Fernsehpublikum will es so! Der andere: Das Fernsehen ist ein Spiegel unserer gesellschaftlichen Realität und kann sich ihr nicht verschließen. Dem ersten Satz wäre entgegenzuhalten, daß das Fernsehen, im Gegensatz zu Filmproduzenten, Buchverlagen, Plattenfirmen und so fort, ein hohes Maß an Unabhängigkeit genießt, da die Einschaltziffern in kaum einem Zusammenhang mit dem Gebührenäufkom- men stehen.

Und es ist, wenn auch unbewiesen, viel wahrscheinlicher, daß Gewaltdarstellungen zumindest einen Teil der jungen Menschen in ihrer Entwicklung beeinträchtigen können, als daß ein Verzicht auf Gewaltdarstellungen eine ins Gewicht fallende Zahl von Menschen veranlaßt, ihre Fernsehrundfunkberechtigung zurückzulegen.

Was das zweite betrifft: Gerade die Unabhängigkeit des Fernsehens von kurzatmigen kommerziellen Zwängen, und seine öffentlich-rechtliche Stellung in Europa, gäbe ihm die Möglichkeit, das massivste Werkzeug zur Beeinflussung und Korrektur von Verhaltensweisen breitester Bevölkerungsschichten zu sein. Mit anderen Worten: Es hat einen Bildungsauftrag. Den aber hat es mit fliegenden Fahnen verraten. Fast überall in Westeuropa.

Es wird allenthalben zur parteipolitischen Manipulation mißbraucht. Nirgends aber eingesetzt, Verhaltensweisen, die das Beiwort menschlich verdienen, als erstrebenswert darzustellen und einen Weg zu zeigen, wie man zu ihnen gelangen könnte.

Statt dessen wird geschossen und geboxt und jede vorgefaßte Meinung von der Welt als Raubtierdschungel bestärkt. Cui bono?

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