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Čarli im Zweifrontenkampf

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„I timari dell’autunno” — der „heiße Herbst” mit einer in ihrer Breite bisher kaum gekannten lohnwelle, die rund die Hälfte der italienischen Industriearbeiter erfaßt, dominiert die Szene in Italien. Die Frage ist, ob überspannte Lohnforderungen das Kostengefüge der italienischen Industrie auseinandersprengen würden, mit der Folge einer rapiden Inflation ä la fran- ęaise.

Gleichzeitig richten sich jedoch in Rom und Mailand die Blicke gespannt nach draußen, um rechtzeitig die Anzeichen eines währungspoli- tischen Erdrutsches zu bemerken. Da die Aktivität der derzeitigen Regierung nicht über die Expedierung der Routineangelegenheiten hinausgeht, ist es einmal mehr Notenbankgou- verneur Čarli, der die großen wirt- schafts- und finanzpolitischen Manöver dirigiert.

Čarli ist ein Mann der Entschlüsse, und er wartet nicht, bis die Ereignisse seine Handlungsfähigkeit einengen. Er hat diesmal den Vorteil einer robusten Konjunktur — die italienische Wirtschaft steuert auf einen neuen Boom zu, ja es ist nicht übertrieben zu sagen, daß sie bereits mitten im neuen Boom steckt, mit einer Zuwachsrate der gesamten Industrieproduktion von mehr als 8 Prozent und Branchenzuwachsquoten, die bis zu 17 Prozent erreichen. Davon profitiert Čarli bei seiner Taktik. Die soziale Unrast scheint ihn weniger zu beunruhigen. Gewiegte Beobachter in Italien sind der Meinung, daß die Masse der Arbeiter den Lebensstandard, den sie während der letzten eineinhalb Jahrzehnte erreich; hat, jetzt nicht völlig aufs Spiel setzen wird. Wenn nicht die Anzeichen trügen, nimmt Čarli durch eine spürbare Kreditverknappung die Unternehmer zur Zeit in die Zange, um ihnen klarzumachen, daß er nicht gewillt ist, allzu bereitwillige Lohnkonzessionen später großzügig finanzieren zu helfen. Gleichzeitig jedoch ist Čarli dabei, für die große währungspolitische Auseinandersetzung sich eine möglichst günstige Eröffnungsposition zu schaffen. Daher sein Bestreben, die Devisenbestände der italienischen Notenbank möglichst hoch zu halten, um genügend Munition für allfällige Attacken gegen die Lira zu haben. Daher auch sein ebenso resolutes wie geschicktes Vorgehen, das italienische Zinsniveau so hoch au schrauben, daß das Interesse der italienischen Investoren, ihr Kapital im Ausland zu plazieren, in tragbaren Grenzen gehalten wird.

Ein groß angelegtes Manöver führt Čarli zur Zeit auf dem Obligationenmarkt durch. Über die italienischen Finanzmärkte hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten eine Flut von Obligationen ergossen. Zur Zeit sind für rund 23.000 Milliarden Lire Obligationen in Zirkulation. Der Obligationenmarkt hat daher in Italien eine zentrale Position. Um die Rendite für die Obligationen höher zu bringen und so den Markt für zukünftige Emissionen intakt zu halten, läßt Čarli jetzt zeitweilig die Obligationenkurse an der Börse durchsacken, um sie dann auf niedrigerem Niveau wieder aufzufangen. Nach und nach soll auf diese Weise die Rendite bei 71/ bis 8 Prozent stabilisiert werden. Rechnet man dazu noch die De-facto-Steuerer- sparnis von mindestens 1 Prozent hinzu — die italienischen Obligationen lauten auf den Inhaber und entgleiten, da es keine indirekte Zinsbesteuerung gibt, zum allergrößten Teil dem Fiskus — so kommt man auf 9 Prozent. Eine sehr honorable Rendite, die auch manchen Versuchungen von draußen standhält. Wer trotzdem verkauft, hat die Möglichkeit, sich zu’ höchst beachtlichen Bankzinsen liquid zu halten. Für größere Beträge, etwa ab 80 bis 100 Millionen Lire, das sind zirka 60.000 bis 70.000 Franken, werden für Sichtdepositen bis zu 5’A Prozent von Banken gezahlt.

Die akute Gefahr für Čarlį liegt zur Zeit in der heißen Währungsspekulation. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres sind brutto nicht weniger als 2000 Milliarden Lire, ins Ausland abgeflossen. Kein Wunder, daß Čarli die gesamten Auslandspositionen der italienischen Banken in Höhe von rund 500 Milliarden Lire repatriieren ließ, um gegenüber diesem massiven Abfluß einen Gegenposten zu haben. Auf der kommenden Tagung des Internationalen Währungsfonds wird Čarli sich mit Nachdruck für die Einführung flexiblerer Wechselkurse einsetzen. Man denkt dabei in Rom an Bandbreiten im Ausmaß von 2 bis 3 Prozent nach oben und unten sowie an eine automatische Verschiebung der Interventionspunkte unter bestimmten Voraussetzungen, Die Details sind nach italienischer Auffassung variabel. Von Belang ist, die Bandbreiten und die Bedingungen für ihre Verschiebung so anzusetzen, daß die internationale Spekulation nicht mehr durcbstehen kann. Der Realist Čarli wird sich nicht allzu viel Illusionen über das Durchdringen seiner Vorschläge machen. Aber er hofft, in Washington bereits einige wichtige Bundesgenossen zu finden.

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