Alpbach - © Foto: picturedesk.com / ÖNB-Bildarchiv / United States Information Service

Philippe Narval: „Jetzt ist die Zeit zu handeln“

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Das Europäische Forum Alpbach ist 75 – und findet heuer großteils im Netz statt. Der scheidende Generalsekretär Philippe Narval über dieses Wagnis, die Balance zwischen Reflexion und Aktion, diskursive Blasen und das Verhältnis zur türkisen ÖVP.

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Das Europäische Forum Alpbach ist 75 – und findet heuer großteils im Netz statt. Der scheidende Generalsekretär Philippe Narval über dieses Wagnis, die Balance zwischen Reflexion und Aktion, diskursive Blasen und das Verhältnis zur türkisen ÖVP.

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Es ist der 25. August 1945: Europa liegt in Trümmern, doch rund 80 Studenten, Wissenschafter und einige Besatzungsoffiziere finden sich in einem Tiroler Bergdorf ein, um über die Zukunft Europas nachzudenken. (Im Bild Otto Molden - gemeinsam mit Simon Moser Initiator der "Internationalen Hochschulwochen" - anno 1952 im Gespräch mit Teilnehmern.) Heute, 75 Jahre nach der Gründung, ist das „Europäische Forum Alpbach“ noch immer eine der zentralen Denkwerkstätten des Landes. Doch virusbedingt kommen heuer kaum mehr Menschen als damals ins Dorf: 200 Personen sind pro Tag zugelassen, die anderen 4300 Registrierten können online mitdiskutieren (vgl. 2020.alpbach.org). Doch weht der „Geist von Alpbach“ auch virtuell? Und was macht ihn heute aus? Ein Gespräch mit Generalsekretär Philippe Narval, der – wie Präsident Franz Fischler – heuer letztmalig das Forum verantwortet.

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DIE FURCHE: Herr Narval, Sie sagen selbst, dass es „Wahnsinn“ sei, das Forum Alpbach digital zu veranstalten. Warum haben Sie es trotzdem gewagt?
Philippe Narval: Weil man auch ein bisschen verrückt sein muss – und zwar im positiven Sinn. Es war ja auch verrückt, 1945, als in Japan gerade die Bomben gefallen waren, in einem Bergdorf ein intellektuell-schöngeistiges Treffen zu veranstalten. Städte waren aufzubauen – und trotzdem waren diese Debatten notwendig.

DIE FURCHE: Das heurige Motto, „Fundamentals“, passt auch zur Situation des Forums, das in seinen Grundfesten erschüttert wurde. Schließlich zeichnet sich Alpbach durch seine informellen Gespräche aus. Kann das digital annähernd kompensiert werden?
Narval: Unsere Konferenzsoftware „Hopin“ macht echte Interaktivität möglich: Man kann sich zu Sessions mit Bild zuschalten und sich zufällig oder konkret vernetzen. Aber natürlich: Das, was Alpbach in normalen Jahren besonders auszeichnet, ist gerade diese „Serendipity“, diese Zufälligkeit, jemandem über den Weg zu laufen und mit ihm eine Stunde lang über Gott und die Welt zu diskutieren. Deshalb ist es auch wichtig, keine reine Onlinekonferenz zu veranstalten. Unter den täglich 200 akkreditierten Personen sind auch Jugendvertreter unserer weltweiten Alumni-Vereine. Diese Präsenz ist wichtig – auch gegenüber den Alpbachern, bei denen wir seit 1945 zu Gast sind.

DIE FURCHE: Aropos Jugend: Ein Herzstück von Alpbach, vorangetrieben vor allem von Erhard Busek, ist die Vernetzung junger Studierender aus Mittel­ und Osteuropa. Wie sehr schmerzt es, dass das heuer nicht möglich ist?
Narval: Es schmerzt sehr, aber gerade durch die Krise hat sich bestätigt, dass wir mittlerweile nicht nur über ein Netzwerk in Europa, sondern durch unsere Stiftung in der ganzen Welt verfügen, auch in Afrika und Asien. Wir haben jedes Jahr etwa 600 Stipendiaten aus 100 Nationen. Es war auch die Idee der Jungen, das Forum online stattfinden zu lassen. Gerade in einer Zeit, in der Europa wieder in die Kleinstaaterei abdriftet, sind solche Begegnungen über Nationengrenzen hinweg ein wertvolles Signal.

Philippe Narval - © Foto: Andrei Pungovsch

Philippe Narval

Philippe Narval ist seit 2012 Geschäftsführer des „Europäischen Forum Alpbach“. Seit Jahren beschäftigt er sich mit Fragen zur Erneuerung der repräsentativen Demokratie.

Philippe Narval ist seit 2012 Geschäftsführer des „Europäischen Forum Alpbach“. Seit Jahren beschäftigt er sich mit Fragen zur Erneuerung der repräsentativen Demokratie.

DIE FURCHE: Aber welche Jungen wollen Sie erreichen? Die künftige intellektuelle Elite?
Narval: Wir sind zwar insofern elitär, als man sich für ein Stipendium bewerben muss – aber uns ist dennoch wichtig, dass wir breit aufgestellt sind. Es geht darum, dass sich die jungen Leute in einer Community engagieren, dass sie etwas Anständiges machen – oder sich auch in den Widerstand bringen. Gerade heuer werden etwa unsere jungen ungarischen Stipendiaten eine sehr kritische Session zur Lage in ihrem Land einspielen. Es geht also nicht nur um Intellektualität, weil Nachdenken allein hilft nicht. Die jungen Leute sollen auch inspiriert werden, selbst etwas zu tun, es braucht eine Mischung aus Reflexion und Aktion. Wir haben deshalb Formate entwickelt, die Pioniere zusammenbringen – vom Erfinder der kompostierbaren Toilette bis zum Entwickler neuer Windkraftwerke.

DIE FURCHE: Inwiefern ist das eine Änderung der Einladungspolitik im Vergleich zu Zeiten, in denen man vor allem Geistesgrößen nach Alpbach bringen wollte?
Narval: Es geht uns darum, eine Balance zu finden – und jene, die die großen kritischen Fragen stellen, mit Pragmatikern, die Realitäten schaffen wollen, in einen Dialog zu bringen. Wir werden unsere Gesellschaft ja nur weiterbringen, wenn dieser Dialog stattfindet. Wenn man etwa beobachtet, was in den letzten drei Jahrzehnten im Silicon Valley in puncto Technologieentwicklung und Algorithmen passiert ist, ohne dass man in einen Dialog mit der Geisteswelt getreten wäre, dann sieht man die Gefahren solcher Einseitigkeit. Jetzt ist die Zeit zu handeln, wir haben genug nachgedacht. Vor allem in Bezug auf die Klimakrise erwarten sich die Menschen endlich konkretes Tun. Dass Intellektuelle die Krisen der Zeit heraufbeschwören, aber selbst noch einen Jaguar fahren, funktioniert nicht mehr.

DIE FURCHE: Sie haben von Widerstand gesprochen. Aber wie viel Dissidenz, wie viel abweichende Meinung ist in Alpbach opportun?
Narval: Wir haben heuer die ungarische Justizministerin, Judit Varga, unter unseren wenigen geladenen Staatsgästen. Und unter Türkis-Blau haben wir uns sogar bemüht, Innenminister Herbert Kickl zu bekommen – doch er wollte nicht. Sie sprechen aber etwas Wichtiges an: Wenn ich auf die letzten acht Jahre z urückblicke, wurde es zunehmend schwieriger, diesen Dialog zwischen Andersdenkenden herzustellen. Ein Grund ist wohl, dass Österreich an sich über keine ausgeprägte Diskussions- und Streitkultur verfügt. Dazu kommt nun, dass man durch die Diskurse im Netz dazu tendiert, unter Gleichgesinnten zu bleiben – oder Diskussionen eskalieren zu lassen. Man braucht sich nur die aktuelle Diskussion über „Cancel-Culture“ anzusehen, wo schnell große Erregtheit im Netz entsteht. Ich fürchte, dass das in den nächsten Jahren noch schwieriger wird.

Jenen, die eine stärkere Diskurshoheit wollten, ist klar geworden, dass man Alpbach nicht kontrollieren kann.

Philippe Narval

DIE FURCHE: Schwieriger wurde unter Sebastian Kurz auch das Verhältnis zur ÖVP. Im Vorjahr hat Wirtschaftskammerchef Harald Mahrer gemeint, man könne „keinen Mehrwert mehr“ in Alpbach erkennen – jenem Ort, der seit jeher als Treffpunkt des bürgerlichen Lagers galt. Mit dem „Salzburg Summit“ wurde gar eine Gegenveranstaltung konzipiert.
Narval: Was die Wirtschaftskammer betrifft, so gab es in den letzten neun Jahren das Bemühen, Alpbach unabhängiger von Interessenvertretungen zu positionieren. Dass das manchen nicht gepasst hat, ist legitim.

DIE FURCHE: Und Arbeiterkammer oder Industriellenvereinigung?
Narval: Die AK ist in einem reduzierten Rahmen dabei und finanziert auch Stipendien – und die IV ist wieder dabei. Nur die Wirtschaftskammer ist abwesend. Aber ich will jetzt keine Kammersuada beginnen, die Problematik der zu starken Verkammerung Österreichs sollte bekannt sein.

DIE FURCHE: Und das „bürgerliche Lager“, kommt es noch zu Ihnen?
Narval: Alpbach hat gezeigt, dass dieses Lager immer schon breit war. Schon zur Zeit von Otto Molden waren von bürgerlichen Kommunisten bis zu bürgerlichen Konservativen alle hier. Diese Breite zeichnet eine Demokratie auch aus. Grundlage ist dabei das Bekenntnis zur Verfassung, zu Grund- und Menschenrechten und zur Liberalität, die aber heute in Europa in Gefahr ist. Franz Fischler, der gesamte Vorstand und ich haben klargemacht, wo wir da stehen. Ich habe auch mehrfach gesagt, dass Innenminister Kickl verfassungsfeindlich agiert – das dürfte der früheren Regierung nicht gepasst haben. Den Leuten, die eine stärkere Diskurshoheit haben wollten, ist klar geworden, dass man Alpbach nicht kontrollieren kann. Und dieser unabhängige Geist wird weiter hier wehen.

DIE FURCHE: Also auch unter Andreas Treichl, der Franz Fischler als Präsident nachfolgen wird?
Narval: Ich will ihm und seinem Team nicht vorgreifen – er wird alles anders und trotzdem dem Geist Alpbachs verpflichtet gestalten. Aber ihm ist bewusst, wie es um Europa und die Demokratie im Moment bestellt ist.

DIE FURCHE: Nicht nur die alte, auch die aktuelle Regierung wird von Ihnen kritisiert – etwa wegen der Nichtaufnahme von Geflüchteten aus griechischen Lagern.
Narval: Ich habe mich dazu in einem Standard-Gastkommentar geäußert – und könnte das jeden Tag wiederholen: Es ist eine Schande für Europa, dass wir hier nicht handeln oder zumindest ein Zeichen der Humanität setzen.

DIE FURCHE: Kommen wir am Ende zurück in die Zukunft. Sie haben Alp­bach einmal in der FURCHE als „besonderen Rohdiamanten“ bezeichnet. Andere üben Kritik – auch an den vagen Generalthemen, zu denen dieselben Referenten regel­ mäßig dasselbe sagen würden.
Narval: Die Kritik an der Wiederholung ist zum Teil berechtigt, weil sie klarmacht, dass Alpbach auch ein Spiegel der Gesellschaft ist. Wir führen eben manche Diskussionen schon seit Jahren! Nehmen Sie etwa das Bildungsthema: Da könnten Sie einen Vortrag von vor 20 Jahren hernehmen, ein paar Worte ändern – und ich sage Ihnen, der wurde gestern gehalten! Alpbach darf sich also nicht überschätzen. Die große Präsenz junger Menschen, die wir seit 75 Jahren pflegen, zeichnet uns aber aus. Und wir haben uns in den letzten Jahren auch bemüht, jene Menschen hierherzubringen, die es gewohnt sind, Muster zu durchbrechen – nämlich Künstlerinnen und Künstler. Sie sorgen für den verstörenden Spiegel, den wir zur Selbstreflexion brauchen.

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