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Eine evangelische Stimme

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ln den Betrachtungen zu den Kirchengebeten des 6. und 12. Sonntags nach Pfingsten („Furche“, Nummer 26 und 32/61) wurde in beherzigenswerter Weise darauf aufmerksam gemacht, in welcher Klarheit in diesem ehrwürdigen Traditionsgut römischer Liturgie die volle und unverkürzte Alleinwirksamkeit der göttlichen Gnade in Erscheinung trete. Damit aber scheint unter Beweis gestellt, daß dieses Gebetsgut das refor- matorische Schlagwort „Allein aus Gnade“ bereits vollgültig enthält. Das aber führt zur „bohrenden“ Frage nach Sinn und Notwendigkeit der Reformation. Wenn die Kirche in ihrer Liturgie das Anliegen der Reformation schon aufgenommen und beantwortet hat, warum kam es dann zum Bruch, warum bleibt es dann bei der Spaltung der Christenheit? — Das ist eine gute, ja eine nötige Fraget Und zwar für römische wie für protestantische Christen. Denn in der darin sich offenbarenden Unruhe über die Kirchenspaltung wird auch schon eine Einheit gemeinsamen Christusbekenntnisses sichtbar.

Die rein historische Komponente unserer Frage scheint relativ leicht beantwortbar. Es kann nämlich keinen Zweifel darüber geben, daß die Reformatoren jene Gebete oder mindestens ähnlich lautende, nicht nur gekannt haben, sondern aus ihnen und gleichlautenden Stimmen der Kirche ihre eigene Sache begründet und bestätigt fanden. Sie hatten ja nie daran gedacht, sich gegen die Kirche zu wenden — Luthers Reform des Gottesdienstes bekannte sich ausdrücklich zur gewachsenen Gestalt der Messe, und wir wissen heute durch die moderne liturgiegeschichtliche Forschung, daß selbst Zwinglis liturgischer Radikalismus im Grunde nur Gottesdienstformen ausbaut, die sich im Spätmittelalter bereits als gebräuchliche Nebenformen durchgesetzt hatten. Anders allerdings gestaltet sich die historische Sicht, wenn gefragt wird: Wieso hat sich diese, in den Gebetstexten bezeugte, Gnadenverkündigung der Kirche im späten Mittelalter praktisch nicht durchsetzen können? Ist das nicht das eigentliche Problem: der von der Kirche feierlich verurteilte Pelagianis- mus und Semipeligianismus war faktisch zur Hintertür wieder eingeströmt und bestimmte nicht nur die breite Praxis des religiösen Alltages, sondern auch das Lehrsystem der Theologen (Verdienstlichkeit auf Grund menschlicher Mitwirkung)l Gewiß gab es auch um 1500 neben liturgischen und dogmatischen Kernsätzen noch viele treue Zeugen der augustinischen Gnadenlehre, aber das kirchliche Lebensgefühl schwang doch wohl um andere Achsen. Das „sola gratia“ war gleichsam in einem goldenen Schrein eingeschlossen — es blieb damals offenkundig stumm.

Nun muß man zugestehen: die Reformatoren haben es auf ihre besondere Weise wieder zum Reden bringen wollen, und zwar interpretierten sie das „allein aus Gnade“ durch das „allein aus Glauben“. Und darüber kam es zum Bruch. Denn dies wurde von den einen als unerlaubte Neuerung, von den anderen als unabdingbare Notwendigkeit, die Alleinherrschaft der Gnade Gottes zum Sprechen zu bringen, erachtet.. Wem, so meinen es die in der Gefolgschaft der Reformation stehenden Christen auch heute, wirklich „Gnade von Anfang an“ und „Alles Gnade“ ist, so kann dieses göttliche Totalgeschenk nur mit der Totalauslieferung des Menschen an diese Gnade beantwortet werden oder, anders ausgedrückt, mit dem Totalverzicht des glaubenden Menschen, irgend etwas, was diese Gnade in ihnen wirkt, auch nur mit dem Schatten eines Tetlverdienstes oder einer Mitwirkung für sich als Heilsleistung in Anspruch zu nehmen. Gerade die Totalität der göttlichen Liebe fordert den Tateinsatz der menschlichen Gottes- und Nächstenliebe in totaler Hingabe, die Gott alles „gratis“ erstattet, ohne irgend etwas für sich buchen zu wollen. Das ist jedenfalls der Sinn des reformatori- schen „sola fide“, wobei unumwunden zugestanden werden soll, daß dieser Sinn nicht zu allen Zeiten in Wort und Tat recht, das heißt in voller Klarheit, bezeugt worden ist.

Vielleicht ist nun die bohrende kirchengeschichtliche Frage durch diesen kurzen Antwortversuch noch bedrückender geworden. Es hängen ja an dem gegenseitigen, in Trient fixierten, Mißverstehen die unendlichen Gewichte der beiderseitigen theologischen Entfaltung: Gnade als göttliche Kraftsubstanz auf der einen Seite — davon ist auch die Sprache dieser Gebetstexte gefärbt — und Gnade als richterliche Huld auf der anderen

Seite, mit dem jeweils verschiedenen Verständnis von dem, was Glaube bedeutet. Es steht damit aber das ge samte Verständnis des Heiles, Gottes selbst, des Menschen und der Person und des Werkes Christi gleichermaßen erneut zur Grunddebatte. Hier gibt es kein Ausweichen, sondern nur eine Generalüberholung. Aber ist das nicht das Große der heutigen kirchengeschichtlichen Stunde: Wir fühlen uns füreinander gefordert/ Wir können nicht mehr achselzuckend den anderen seinen Weg gehen lassen, sondern müssen mit ihm ins Gespräch kommen, sofern nämlich jenes „Alles ist Gnade“ kein toter Satz ist, sondern das lebendige Wort, das uns Menschen zum Heil in Christus in die Welt gesprochen ist.

Dr. Wilhelm Dantine, Wien Universitätsdozent

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